Künstliche Intelligenz im Recht: Das unbekannte Wesen – Interview mit Micha Grupp (BRYTER)

von Nico Kuhlmann

Der Begriff der Künstlichen Intelligenz ist allgegenwärtig in wissenschaftlichen Beiträgen, Zeitungsüberschriften und Werbematerialien. Dabei wird dieser Begriff so undifferenziert verwendet, dass er mittlerweile fast gleichbedeutend ist mit digitaler Technologie. Alles, was einen Prozessor hat und auf dem irgendeine Form von Software läuft, ist auf einmal Künstliche Intelligenz. Das fördert Missverständnisse und erschwert eine sachliche Diskussion.

Micha Grupp ist Rechtsanwalt, Unternehmer und Legal-Tech-Pionier. Hauptberuflich ist er Gründer und Geschäftsführer von BRYTER, einer Plattform zur Automatisierung von Expertenwissen, die keine Programmierkenntnisse voraussetzt. Zuvor war er Rechtsanwalt bei Hogan Lovells und hat bereits erfolgreich andere Unternehmen gegründet. Zusätzlich zum Unternehmertum ist er Dozent für Legal Technology and Innovation an der Goethe Universität Frankfurt sowie Mitglied der Executive Faculty des Bucerius Center on the Legal Profession und der Task Force Legal Tech des Deutschen Anwaltvereins.

Nico Kuhlmann: Lieber Micha, vielen Dank, dass Du Dir die Zeit nimmst. Sprechen wir gegenwärtig zu viel oder zu wenig über Künstliche Intelligenz?

Micha Grupp: So, wie wir über KI sprechen, sprechen wir zu viel über KI. Aber eigentlich ist das ein gutes Thema, wir sprechen nur falsch darüber. Oder über die falschen Aspekte.

Die juristische Szene ist vom AI-Hype erfasst – wie alle Industrien – verkennt aber, dass in ihrem Bereich ganz andere Techniken nötig sind. Man könnte vereinfacht sagen, dass die Fortschritte, die in den letzten Jahren in anderen Bereichen gemacht wurden, für die Juristen irrelevant sind. Das ist etwas übertrieben, aber für die Modellierung juristischen Denkens sind Techniken, wie beispielsweise solche, die für die Muster- und Bilderkennung eingesetzt werden, kaum nutzbar. Juristisches Denken spielt sich vor allem auf der semantischen Ebene ab – der technische Fortschritt der letzten Jahre ist aber vor allem auf syntaktische Strukturen, also ganz objektiv verarbeitbare Zeichen, anwendbar. Für uns Juristen sind Techniken spannend, die schon seit den 1980er entwickelt wurden, zum Teil in Kombination mit modernen Verfahren. Aber das hat mit dem gegenwärtigen Hype wenig zu tun.   

Nico Kuhlmann: Die Geschichte des Begriffs der Künstlichen Intelligenz ist also viel älter als der gegenwärtige Hype. Kannst du das kurz zusammenfassen: Welche Höhen und Tiefen gab es bereits?

Micha Grupp: Das ging schon früh los: Während die ersten Informatiker Rechenmaschinen konzipierten und Programmiersprachen schrieben, dachten Juristen über eine Automatisierung des juristischen Denkens nach. Die Grundidee der Automation normativer Sätze ist schon alt. Man könnte fast sagen, Juristen haben eine Art Urangst, dass man sie automatisiert.

Zum Beispiel kommt 1908 in einer Erzählung von Alexander Roda Roda ein Justiz-Klavier vor. Auf den schwarzen Tasten gibt man alle Tatbestände ein, für jeden Tatbestand gibt es eine Taste. Und auf den weißen Tasten die begünstigenden Faktoren. Notwehr, Wiedergutmachung, Reue. Und dann gibt das Klavier einen Schuldspruch aus, ganz automatisch. Das war schon immer ein Traum der Juristen, könnte man sagen.

Parallel mit der Entwicklung der Informatik versuchte sich die Rechtsinformatik gleich an den dicken Brettern: In den 1960ern und 70ern experimentierte man mit selbstlernenden Techniken und Fuzzy Logic, um Subsumtion und Würdigung zu imitieren. In den 1980ern herrschten die Expertensysteme vor. Beide Technikkonzepte hatten ihre Grenzen, richtig funktioniert hat eigentlich nichts. Das lag aber bestimmt nicht nur an den Techniken selbst: Die Massenverbreitung von PCs kam Mitte der 1990er. Software wurde bis Mitte der 1990er auf Disketten verkauft. Und dann das ganze Daten-Thema: Die Ansätze – auch die regelbasierten – brauchten schließlich eine Wissensgrundlage in irgendeiner Form. Die wurden von Hand erstellt, da das ganze Wissen auf Papier war. Optical Character Recognition (OCR) kam auch erst 1993 auf den Markt – noch in den 2000er Jahren war das eine Neuerung in den Scannern.

Erst in den 2000er Jahren hatten wirklich “intelligente” Systeme mit Schachcomputern und Automationen im IT Bereich einen Durchbruch, bis dahin hatten die Juristen dann endgültig das Interesse verloren und die wenigen IT-interessierten Rechtswissenschaftler haben sich mit anderen Sachen beschäftigt. In den 1980er Jahren fand an fast jeder größeren Fakultät auch Forschung zur Rechtsinformatik statt. Dies ist heute anders. Meines Wissens nach ist nur Prof. Adrian Paschke am Fraunhofer FOKUS in Berlin noch aktiv.

Fasst man das zusammen, kann man also sagen, dass in jeder Dekade es ein paar vorherrschende Konzepte gab, aber aus juristischer Sicht kam wenig erfolgreiches dabei heraus. Daran gemessen ist derzeit eindeutig am meisten los.

Nico Kuhlmann: Der Begriff Künstliche Intelligenz umfasst viele verschiedene Konzepte. Welche sind gegenwärtig aus Deiner Perspektive für Juristen die erfolgversprechendsten Ansätze?

Micha Grupp: Das kommt darauf an, woran man arbeitet und welche Daten man zur Verfügung hat. Geht es um formalisierte Daten die ohne weiteres maschinenlesbar sind, kann man viel machen, dann sind maschinelle Lernverfahren spannend.  In den letzten Jahren sind vor allem Ansätze der weitgehend selbstlernenden Systeme zu guten Ergebnissen gekommen, also alles um den Bereich der “deep learning” genannten Techniken bei denen Modelle selbstständig zu Ergebnissen kommen. Die Entwicklung kann man übrigens in diesem Beitrag der MIT Technology Review gut nachlesen.

Bei schlechter Datensituation lassen sich Algorithmen auch “von Hand” trainieren, in denen Ergebnisse durch Einwirkungen gesteuert werden. Diese Ansätze lassen sich teilweise auch im juristischen Bereich als bessere Suchfunktionen einsetzen oder mit weiteren Technologien zu Analyse-Algorithmen weiterentwickeln, die zum Beispiel in juristischen Texten bestimmte Klauseln finden. Ab einer bestimmten Verständnisebene sind diese Ansätze aber beschränkt. Das für die juristische Subsumtion nötige semantische Verständnis und weitere Faktoren verhindern den Einsatz auf viele juristische Probleme.

Wenn man richtige juristische Schlüsse abbilden will, dann bleibt eigentlich nur der Einsatz klassischer regelbasierter Systeme. Das heißt aber nicht, dass die juristische Arbeit frei von intelligenten Systemen ist. Im Gegenteil sehen wir zur Zeit zunehmend Ansätze auf Grund nicht-juristischer Daten, aber im juristischen Einsatz, zum Beispiel bei der Analyse von Rezidivwahrscheinlichkeiten oder im Profiling.

Nico Kuhlmann: Welche Bedeutung werden die verschiedenen Konzepte von Künstlicher Intelligenz in den nächsten Jahren im Recht haben? Was könnte funktionieren und was eher nicht?

Micha Grupp: Man kann das nicht in einem Satz sagen. Aber der juristische Bereich ist in vielen Aspekten besonders. Juristisches Denken basiert meist in der Anwendung von Ontologien und unheimlich großem Vorwissen. Und dann das Hauptproblem: Juristische Würdigung ist völlig unformalisiert und damit für Maschinen nicht verständlich und erlernbar. Ob zum Beispiel eine Klausel “gut” oder “schlecht” für eine Vertragspartei ist, lässt sich nur schwer eindeutig sagen. Ich habe das vor kurzem in einem längeren Beitrag einmal zusammengefasst (25 facts about AI & Law you always wanted to know – but were afraid to ask).

Ich würde drei Sachen prognostizieren:

  • Erstens werden wir in weiteren Einzelfällen lohnenswerten Einsatz von maschinellen Systemen auf nicht-juristischen Daten haben, die aber dennoch große Konsequenzen für die Juristen haben werden. Das Klischee-Beispiel hier ist die Verbreitung des autonomen Fahrens, das Verkehrsrechtlern die Arbeit abnimmt. Oder Anwendungen wie COMPAS in den USA, das Vorhersagen über die Rückfallwahrscheinlichkeit von Straftätern ausrechnet.  
  • Zweitens werden wir im semantischen, linguistischen Bereich weitere Anwendungen sehen, die auch für einzelne juristische Tätigkeiten hilfreich sind.  
  • Drittens werden Automationen, also regelbasierte Anwendungen, die in anderen Branchen derzeit auch anspruchsvollere Prozesse digitalisieren, auch im juristischen Bereich mehr und mehr Einsatzbereiche finden. Ich glaube auch, dass es dieser Automations-Bereich ist, der unsere Tätigkeit für Dekaden verändern wird. Das passiert gerade in allen anderen Branchen, das wird bei uns Juristen ähnlich sein.

Nico Kuhlmann: Gibt es gegenwärtig Deines Wissens nach ernstzunehmende Forschungsvorhaben, die sich mit Künstlicher Intelligenz im Recht beschäftigen?

Micha Grupp: Wie gesagt ist der klassische Forschungsbereich der juristischen KI, die Rechtsinformatik, nicht mehr sehr aktiv. Auch international ist auf Seiten der Wissenschaft wenig adaptierbar. Aber mehrere Unternehmen entwickeln interessante Ansätze. Dazu zählen beispielsweise ThingsThinking aus Karlsruhe und RFRNZ aus München. Von denen erwarte ich noch einiges. Spannend sind die Entwicklungen im Bereich der Spracherkennung – dort entwickelt sich viel und manche Anwendungen können auch für Juristen nutzbar sein. Trotzdem reden wir auch hier immer noch eher von kleinen Insellösungen, mit denen der Großteil der Juristen nie in Kontakt kommen wird. Wir entwickeln selbst im Rahmen eines vom Land Berlin und von der EU geförderten Projekts eine “intelligente” semantische Suchfunktion, die ist aber noch im sehr prototypischen Zustand.

Nico Kuhlmann: Welchen Aspekt von Künstlicher Intelligenz im Recht sollten die Studierenden und die Berufsanfänger gegenwärtig berücksichtigen und vertiefen, um für die Zukunft gewappnet zu sein?

Micha Grupp: Das wird dich jetzt vielleicht überraschen, aber ich würde sagen: Gar keinen. Statt dessen sollten sie lieber in wirtschaftswissenschaftliche Grundlagen investieren und Innovationen in anderen Branchen beobachten. Der Rechtsmarkt hinkt nicht deshalb hinterher, weil wir nicht genügend Roboter haben, sondern weil wir uns zu sehr als juristische Schneeflocken verstehen, die Anspruch auf eine bizarre Sonderbehandlung geltend machen. Klar, wir sind besonders – Organe der Rechtspflege, gesetzliche Richter, Ermittlungsorgane und so weiter. Aber man muss sich bewusstmachen, dass Zukunft und Innovationen nicht nur durch das technisch Machbare, sondern durch Geschäft beeinflusst werden. Und da sind wir sehr unbeliebt: Recht ist teuer und bringt kaum Mehrwert. Von allen Seiten versuchen Akteure, Kosten zu sparen, gerade mit Hilfe von Technologie. Das wird in Zukunft eindeutig zu Lasten der Juristen gehen, deren Arbeit teuer bleiben wird. Wenn in einem Unternehmen ein Risikomodell vernünftige Berechnungen fahren kann, kann ich mir die Beteiligung meiner Rechtsabteilung sparen. Der E-Commerce bringt kaum Streitfälle vor Gericht weil er sich – metrikenbasiert und softwareunterstützt – selbst regelt. Die Liste lässt sich fortsetzen.

Wer für die Zukunft gewappnet sein will, sollte also vor allem die digitalen Geschäftsmodelle und Lebensmodelle der Akteure seines Tätigkeitsbereiche ansehen. Bei BRYTER – wir stellen übrigens gerade ein – suchen wir nicht Juristen die Neuronale Netze programmieren können, sondern die in der Lage sind, mit Kunden digitale Geschäftsmodelle zu diskutieren. Technologie ist nie Selbstzweck, im Zentrum steht immer der Kunde als Mensch.

Nico Kuhlmann: Lieber Micha, vielen lieben Dank. Weiterhin viel Erfolg für Deine Projekte.