Legal Tech-Strategie für Wirtschaftsanwälte – Interview mit Dr. Gernot Halbleib

von Nico Kuhlmann

Das Thema Legal Tech hat letztes Jahr deutlich an Fahrt aufgenommen und ist mittlerweile in aller Munde. Mehrere namhafte Konferenzen sowie unzählige Zeitschriften- und Blogbeiträge haben sich mit unterschiedlichen Facetten dieses Trends beschäftigt. Vielen Anwältinnen und Anwälten fällt es aber trotzdem noch schwer herauszufiltern, was für für die eigene Arbeit relevant ist. Darüber hinaus haben nur die wenigsten Kanzleien eine langfristige, systematische und umfassende Legal Tech-Strategie entwickelt, um das eigene Geschäftsmodell ins 21. Jahrhundert zu überführen.

Dr. Gernot Halbleib ist Mitglied der Executive Faculty des Bucerius Center on the Legal Profession. Er berät seit 2015 Kanzleien beim Einsatz von Technologie zur Optimierung rechtlicher Arbeitsprozesse und zur Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle. Neben der Qualifikation als Volljurist verfügt er über mehrjährige Erfahrung in der Softwareentwicklung, im IT-Projektmanagement und im Aufbau digitaler Unternehmen. Im Herbst 2017 bietet er im Rahmen einer Roadshow in verschiedenen deutschen Städten halbtägige Präsenz-Seminare für Wirtschaftsanwälte an, um eine eigene Legal Tech-Strategie zu erarbeiten.

Nico Kuhlmann: Lieber Gernot, Legal Tech ist gegenwärtig eines der meist verwendeten Schlagwörter, aber die wenigsten können definieren, wofür dieser Begriff eigentlich steht. Was verstehst Du unter Legal Tech?

Gernot Halbleib: Für den Begriff Legal Tech gibt es verschiedene Definitionen, die je nach Blickwinkel auch ihre Berechtigung haben. Nach meinem Verständnis beginnt Legal Tech dort, wo im Kern juristische Tätigkeiten ganz oder teilweise durch Technik ersetzt werden und sich dies auf juristische Geschäftsmodelle auswirkt. Ich grenze Legal Tech gerne von “Office Tech” ab, das unterstützend wirken kann, aber die juristische Wertschöpfung noch nicht grundlegend verändert. Dieser Bereich ist auch nicht unwichtig, aber eine E-Akte oder Diktieren auf dem iPhone machen aus einer Anwaltskanzlei noch keinen digitalen Player. Man sollte sich an einer Definition dieses Begriffs aber auch nicht zu lange aufhalten, denn für Anwälte ist es wichtiger, auf die strategischen und praktischen Herausforderungen der Digitalisierung vorbereitet zu sein und die jetzt notwendigen Maßnahmen einzuleiten.

Nico Kuhlmann: Welche Fragen müssen Kanzleien diesbezüglich beantworten, um die grundlegenden Weichen einer Legal Tech-Strategie richtig zu stellen?

Gernot Halbleib: Die Fragen gehen in zwei Richtungen: “Wie kann ich meine internen Prozesse zukünftig effizienter gestalten, um in einer digitalen Welt konkurrenzfähig zu bleiben?” und “Welche neuen, digitalen Beratungsprodukte kann ich anbieten, um die Probleme meiner Mandanten zu lösen?”. Im Seminar “Legal Tech-Strategie für Wirtschaftsanwälte” lernen die Teilnehmer, wie sie das Potenzial für Effizienzsteigerungen bei ihren wichtigsten Rechtsprodukten und Dienstleistungen erkennen und an welchen Stellen im Entstehungsprozess dieser Produkte sie mit Legal Tech ansetzen können. Anhand von Beispielen zeige ich auch, wie es Anwälten gelingen kann, digitale Rechtsprodukte zu entwickeln und damit Geld zu verdienen.

Nico Kuhlmann: Diesen Punkt würde ich gerne aufgreifen. Welche konkreten Beispiele gibt es bereits und mit welchem Geschäftsmodell können diese Produkte am besten monetarisiert werden?

Gernot Halbleib: Ein prominentes Beispiel ist das Wissensportal “aosphere” von Allen & Overy, das am Markt sehr erfolgreich ist. Der Kunde zahlt hier eine Nutzungsgebühr, um auf die bereitgestellten Inhalte zugreifen zu können. Auch das “CMS-Produkt FPE (Einsatz von Fremdpersonal)” zeigt, wie Kanzleien Geld verdienen können, ohne anwaltliche Stunden zu verkaufen.

Welches Geschäftsmodell für die Monetarisierung eines Rechtsprodukts am besten geeignet ist, hängt von der Art des Produkts und dem Marktumfeld ab. Es ist typisch für digitale Rechtsprodukte, dass sie gut skalierbar sind, also mit relativ geringem Aufwand erneut produziert werden können. Daher ist es für ein erfolgreiches Geschäftsmodell wichtig, von Input-basierter Abrechnung wie billable hours wegzukommen. Geeignete Preismodelle können feste Pauschalen für bestimmte Leistungen oder Lizenz- und Nutzungsgebühren für einen Zeitraum, eine bestimmte Anzahl von Nutzern oder bestimmte Inhalte sein. Es gibt auch die Möglichkeit, – soweit zulässig – den Preis für ein Rechtsprodukt unmittelbar am Mehrwert des Kunden zu orientieren, was beispielsweise bei anteiligen Erfolgshonoraren der Fall ist.

Nico Kuhlmann: Es spricht einiges dafür, dass sich der Schwerpunkt der anwaltlichen Beratung verschieben wird. In welchen Bereichen siehst Du das größte Wachstumspotenzial?

Gernot Halbleib: In allen Bereichen wird es Veränderungen geben, und damit große Chancen für neue, aber auch etablierte Player. Das größte Potenzial für neues Wachstum sehe ich im Bereich B2C, da wird viel Bedarf an Rechtsdienstleistungen noch nicht professionell bedient. Dies ist eine Chance vor allem für Legal Tech-Startups, die mit neuen Angeboten attraktiv für Verbraucher sind und den Zugang zum Recht erheblich verbessern können.

Auch bei Rechtsprodukten für kleine und mittelgroße Unternehmen gibt es noch Marktsegmente, die kaum bespielt werden. Selbst bei der High-end-Rechtsberatung, wo sich Anwälte noch am wenigsten angreifbar fühlen, werden die Karten in einigen Bereichen durch Legal Tech neu gemischt werden.

Nico Kuhlmann: Welche Marktsegmente und Bereiche sind das? Worauf sollten sich Anwälte in Zukunft mehr konzentrieren?

Gernot Halbleib: Die Digitalisierung wird umso größere Veränderungen bringen, je besser standardisierbar und damit automatisierbar Tätigkeiten sind. Auch dort, wo es um die Verarbeitung großer Datenmengen geht, beispielsweise bei einer Due Diligence oder bei Investigations, wird sich viel ändern. Insgesamt wird es aber kaum einen Bereich geben, in dem die Digitalisierung keine Auswirkungen hat.

Noch am wenigsten werden Tätigkeiten betroffen sein, bei denen es wirklich auf einen persönlichen Mandantenkontakt und ganz individuelle, auf den Einzelfall bezogene strategische Beratung ankommt. Viele Anwälte, vor allem in Wirtschaftskanzleien, glauben, dass ein großer Teil ihrer Arbeit in genau diese Kategorie fällt. Das stellt sich oft als Fehlschluss heraus, denn fast alle anwaltlichen Tätigkeiten beinhalten standardisierbare und automatisierbare Elemente, die Computern überlassen werden können und für deren manuelle Bearbeitung Mandanten immer weniger bereitwillig teure anwaltliche Stundensätze zahlen werden. Ein Beispiel für einen wenig betroffenen Bereich wäre die Strafverteidigung in komplexen Verfahren der Wirtschaftskriminalität. Wenn man sich dies als Anwalt am unteren Ende einer Skala der Standardisierbarkeit vorstellt und sich ehrlich fragt, wo auf der Skala die eigenen Tätigkeiten liegen, mit denen man sein Geld verdient, kommen für viele überraschende Erkenntnisse heraus. Welche Konsequenzen man aus diesen Erkenntnissen zieht, sollte in einer Digitalisierungsstrategie festgelegt werden. In meinem Seminar lernen die Teilnehmer Methoden kennen, mit denen man zu einer Digitalisierungsstrategie kommt.  

Nico Kuhlmann: Durch die Digitalisierung werden auch neue Berufsfelder auf dem Rechtsmarkt hinzukommen. Dazu zählen beispielsweise die sog. Legal Engineers. Was ist deren Aufgabenbeschreibung und inwieweit können diese die Arbeit von Wirtschaftsanwälten unterstützen?

Gernot Halbleib: Ein Legal Engineer ist an der Schnittstelle zwischen Jura-Experten und IT-Experten tätig. Oft verstehen IT’ler nicht auf Anhieb, was Juristen von ihnen wollen und umgekehrt. Da kann es stark zum Erfolg von Legal Tech-Projekten beitragen, wenn es jemanden gibt, der beide Seiten versteht und die Anforderungen an ein Legal Tech-Produkt so spezifizieren kann, dass diese von der IT umgesetzt werden können. Vielen Anwälten fällt es schwer, das Potenzial von Software einzuschätzen und bei der Vielzahl von Angeboten den Überblick zu behalten. Hier unterstützt der Legal Engineer dabei, die passenden technischen Lösungen für ein juristisches Problem zu finden.

Nico Kuhlmann: Viele Studierende fragen sich zur Zeit, wie sie sich auf eine digitalisierte Arbeitswelt vorbereiten sollen. Welche Tipps kannst du Jungjuristen mit auf den Weg geben, die noch ganz am Anfang der Karriere stehen?

Gernot Halbleib: Es ist nicht notwendig neben Jura gleich noch Informatik zu studieren, auch wenn das natürlich nicht schaden kann. Entscheidend ist ein gutes technisches Grundverständnis. Dazu gehört ein bisschen eigene Programmiererfahrung. Über die erste Einstiegshürde zur Programmierung helfen Präsenz-Kurse, die an einigen Unis bereits angeboten werden. Die Bucerius Law School hat solche Kurse sogar speziell für Juristen im Angebot. Sobald man ein gewisses Level erreicht hat, kommt man auch autodidaktisch, vor allem mit online-Ressourcen, sehr weit.

Neben der Theorie ist praktische Erfahrung in IT-Projekten extrem hilfreich, damit man ein Gefühl für die Kommunikation mit Entwicklern und das Erkennen von Herausforderungen bekommt. Da kann ein Praktikum in einer Legal Tech-Abteilung einer Kanzlei helfen oder bei einem Legal Tech-Startup. Ein guter Ansprechpartner dafür ist beispielsweise die neu gegründete Fachgruppe Legal Tech im Bundesverband Deutsche Startups. Neben technischen Skills ist Erfahrung im Projektmanagement wichtig. Die bekommt man selten im normalen Universitätsprogramm, daher kann ich Studierenden nur empfehlen, so viele außerkurrikulare Projekte wie möglich zu machen, vielleicht ja sogar mit IT-Bezug.

Nico Kuhlmann: Lieber Gernot, vielen Dank für das Interview. Viel Erfolg für die Seminare und Deine weiteren Projekte.


Image Credit: Desky Pty Ltd.