Die Rolle des Legal Engineers in Legal Tech-Projekten

by Dr. Gernot Halbleib

„Legal Tech braucht den Legal Engineer“ verkündete Kai Jacob, Global VP Legal Information Management bei SAP, bereits 2015 auf der Herbsttagung des Bucerius Center on the Legal Profession. Seither hat sich viel getan und in der letzten Zeit hat das Thema Legal Tech mit zahlreichen Konferenzen, Hackathons, Blogbeiträgen etc. einen regelrechten Hype erfahren. Ein demnächst erscheinendes Buch (Hartung/Bues/Halbleib, „Legal Tech: Die Digitalisierung des Rechtsmarkts“) beleuchtet die Entwicklung mit konkreten Praxisbeispielen jenseits des Hypes.

Je mehr Legal Tech Einzug in Kanzleien, Rechtsabteilungen und andere Organisationen erhält, desto wichtiger wird die Rolle des Legal Engineers, der kein „Ingenieur“ im eigentlichen Sinne ist, sondern kurz gesagt an der Schnittstelle zwischen Juristen, IT und Mandanten arbeitet. Einige der großen Kanzleien schreiben Stellen für Legal Engineers schon seit längerem aus. Das Problem: Legal Engineers sind schwer zu finden und noch ist das Berufsbild nicht stark genug etabliert, dass es einen funktionierenden Bewerbermarkt gäbe. Dieser Beitrag beschreibt die Aufgaben und das Anforderungsprofil von Legal Engineers und gibt Tipps, wie man einen Legal Engineer findet oder zum Legal Engineer werden kann.

Aufgaben

Wer schon einmal in IT-Projekte in einer Kanzlei oder Rechtsabteilung involviert war, wird es kennen: Oft verstehen IT’ler nicht auf Anhieb, was Juristen von ihnen wollen und umgekehrt. Man hat den Eindruck, als würden beide verschiedene Sprachen sprechen und aneinander vorbeireden. Die Denkstrukturen sind zwar sowohl in Jura als auch in der IT grundsätzlich systematisch-logisch aufgebaut, doch die Darstellungsweise von Problemen kann sich erheblich unterscheiden – und damit auch die Kommunikation. Bei IT’lern stehen regelmäßige Abläufe im Vordergrund, Juristen dagegen fokussieren sich in ihrem Denken oft auf Ausnahme- und Grenzfälle, und damit gerade auf weniger gut standardisierbare Sachzusammenhänge. Während Juristen Sachzusammenhänge bevorzugt in Worten beschreiben, kann ein IT-Experte mit einem juristischen Gutachten mit Annahmen, Ausnahmen, Gegenausnahmen, Fußnoten und fein ziselierten Abwägungen meist eher wenig anfangen. Umgekehrt scheitern Juristen oft am Bedürfnis der IT nach klar definierten Problemstellungen, eindeutig determinierten Lösungen und übersichtlicher Struktur. Und wer als Jurist mit einer typischen IT’ler Antwort wie „Das geht so alles gar nicht“ oder „Das können wir schon machen, aber es ist richtig viel Aufwand und die Lösung kommt frühestens im übernächsten Quartal“ konfrontiert war, weiß, wie schwer es ist dahinter zu kommen, was wirklich gemeint ist. Und manchmal ist die Realität dann gar nicht so schlimm.

Es wird klar: Es braucht jemanden, der in beiden Welten zuhause ist und beide Seiten versteht. Dies ist der Legal Engineer. Er formuliert die Anforderungen an die technische Lösung eines rechtlichen Problems so, dass diese von der IT verstanden und als Legal Tech-Produkt umgesetzt werden können. Dies kann zum Beispiel so aussehen, dass der Weg zu einem juristischen Ergebnis als Entscheidungsbaum dargestellt wird. Dabei müssen alle für die Entscheidungsfindung notwendigen Informationen in Form von Fragen und Antwortoptionen dargestellt werden und ebenso die Reihenfolge der Fragen sowie der logische Zusammenhang zwischen bestimmten Antworten und weiteren Fragen. Am Ende steht ein Modell mit eindeutig definierten Ergebnissen, wodurch eine IT-gestützte Lösung erst ermöglicht bzw. erheblich vereinfacht wird.

Vielen Juristen fällt es schwer, das Potenzial von Software einzuschätzen und Ideen zu entwickeln, wie komplexe Probleme durch Technik gelöst werden können. Der Legal Engineer hilft ihnen, ein Problem möglichst konkret zu definieren und hat dabei bereits mögliche technische Lösungen im Hinterkopf, da er als Experte eine gute Marktkenntnis über die Vielzahl von verfügbaren Tools und Legal Tech-Anbietern mitbringt.

Die Entwicklung eines Legal Tech-Produkts startet mit einer (zumindest groben) technischen Spezifikation, die ein Legal Engineer erstellt oder für deren Erstellung er die IT mit punktgenau aufbereiteten Informationen versorgt. Dabei ist es die Aufgabe des Legal Engineers, bei der Spezifikation die Perspektive des Nutzers des Legal Tech-Produkts einzunehmen und dessen Bedürfnisse zu verstehen und zu beschreiben. Dies ist besonders wichtig, wenn Legal Tech-Produkte nicht nur intern genutzt, sondern Mandanten direkt zur Verfügung gestellt werden sollen.

Typischerweise enthält eine solche Spezifikation nicht alle denkbaren Details, so dass der Legal Engineer auch die erste Anlaufstelle der IT für Rückfragen zu den Produktanforderungen ist. In der Softwareentwicklung allgemein entspricht dies der Rolle eines IT-Produktmanagers oder Product Owners (vgl. dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Scrum#Product_Owner). Rückfragen beantwortet der Legal Engineer selbst oder holt benötigte Informationen von den Anwälten ein. Hier zeigt sich erneut seine Schnittstellenfunktion: Auch wenn diese indirekte Kommunikation zwischen IT und Anwälten auf den ersten Blick nach einer Verkomplizierung aussieht, kommt diese Vorgehensweise aufgrund der Verständnisschwierigkeiten zwischen den jeweiligen Fachexperten erfahrungsgemäß schneller und mit weniger Aufwand zu besseren Ergebnissen.

Während der Softwareentwicklung bewertet der Legal Engineer konstant den Projektfortschritt und achtet darauf, dass Zwischenablieferungen (Milestones) eingehalten werden. Damit entlastet er Anwälte von Projektmanagementaufgaben, die neben dem anwaltlichen Tagesgeschäft eine große Herausforderung darstellen können. Das ist besonders wichtig, wenn es nicht nur um die Konfiguration von eingekauften Softwareprogrammen geht, sondern um die Entwicklung von neuer (Individual-)Software, die in der Regel deutlich aufwändiger und komplexer ist. Der Legal Engineer begutachtet dabei Zwischenergebnisse auch inhaltlich möglichst früh, um sicherzustellen, dass ein Projekt in die richtige Richtung geht. Dies bietet sich insbesondere bei der agilen Softwareentwicklung an, bei der Software in kleinen, für sich nutzbaren Teilen entwickelt und ausgeliefert wird. Dabei ist es wichtig, „nah“ an der IT zu sein, um zu verstehen, was bei einem Zwischenergebnis bereits funktionieren soll und was nicht. Auch dies fällt Anwälten ohne IT-Erfahrung in der Regel schwer. Beim Formulieren von Testergebnissen vor einer Endabnahme kann ein Legal Engineer entscheidend unterstützen, indem er Fehlermeldungen präzisiert und bereits in möglichen Lösungen denkt (damit bug reports über ein typisches „Das Programm funktioniert nicht“ hinausgehen).

Auch bei der Weiterentwicklung von Softwarelösungen ist es hilfreich, einen Legal Engineer als Puffer zu haben, damit die IT nicht von vielen verschiedenen Stellen mit Anforderungen erschlagen und Ideen zur Weiterentwicklung ausreichend spezifiziert und priorisiert in die Softwareentwicklung gelangen.

Anforderungsprofil

Hard Skills

Anhand seiner Aufgaben lässt sich schon erkennen, dass ein Legal Engineer Kenntnisse sowohl in Jura als auch in der IT mitbringen muss. Hinzu kommt Erfahrung im Projektmanagement als wichtige Qualifikation. Legal Engineers können dabei aus verschiedenen Fachrichtungen stammen und müssen nicht zwingend Jura oder Informatik oder gar beides studiert haben. Häufig trifft man Legal Engineers, die eigentlich Juristen sind (nicht notwendigerweise Volljuristen), aber schon früh ein Faible für IT entdeckt und gepflegt haben und mehr oder weniger professionelle Erfahrung in IT-Projekten oder selbst als Programmierer gesammelt haben. Wichtig sind hier ein natürliches Interesse an technischen Zusammenhängen und ein gutes Verständnis für die Problemlösung mit technischen Mitteln.

Es gibt auch Informatiker oder Wirtschaftsinformatiker, die als Softwareentwickler oder Produktmanager in IT-Projekten mit Juristen ein gutes Verständnis für deren Arbeitsweise und die Anforderungen an juristische Arbeitsergebnisse erlangt haben und die eine Schnittstellenfunktion gut ausfüllen können. Es gibt auch erfolgreiche Legal Engineers, die keine Spezialisten in Jura oder Informatik sind, und sich die notwendigen Qualifikationen in praktischer Erfahrung angeeignet haben. Das können z.B. Wirtschaftswissenschaftler sein, die oft über das Projektmanagement oder Business Development in Kanzleien und Legal Tech-Unternehmen ihren Weg zum Legal Engineering finden.

Soft Skills

Neben fachlicher Qualifikation sind persönliche, soziale und methodische Kompetenzen entscheidend für den Erfolg als Legal Engineer. Dazu gehören an erster Stelle gute Empathie- und Kommunikationsfähigkeiten. Da viele Legal Tech-Probleme noch nicht gelöst sind, braucht es Kreativität, Imaginationsfähigkeit und Experimentierfreude, verbunden mit einem gesunden Maß an Ungeduld und Innovationsdrang. Gleichzeitig ist Sorgfalt in Bezug auf die eigenen Arbeitsergebnisse eine wichtige Fähigkeit, da Fehler in Legal Tech-Produkten schwerwiegende Folgen haben können.

Nicht zuletzt sind Pragmatismus und eine so genannte „Hands-on-Mentalität“ gefragt. In seiner Schnittstellenfunktion sieht sich der Legal Engineer nämlich vor einer doppelten Herausforderung: Er muss auf der einen Seite dem Perfektionismus von Juristen gerecht werden, die mit einer Lösung oft erst dann zufrieden sind, wenn jedes kleinste Detail stimmt. Dies kann in IT-Projekten hinderlich sein, da die erste Version einer Software zumindest bei begrenzten Zeit- und Geldbudgets noch nicht alles kann, was gewünscht und auch denk- oder machbar wäre, und in der Regel auch noch Fehler enthält, die erst im Laufe der tatsächlichen Anwendung beseitigt werden können. Auf der anderen Seite steht ein typischer Anspruch von Softwareentwicklern, Lösungen möglichst allgemeingültig, erweiterbar und wiederverwendbar und damit komplex zu gestalten. Dies kann in manchen Projekten sinnvoll sein, schießt aber oft über das Ziel hinaus, insbesondere wenn es darum geht, Lösungsansätze neuer digitaler Rechtsprodukte zunächst mit überschaubarem Aufwand in einer Minimalversion zu erstellen (sog. „Minimum Viable Product“, MVP) und in dieser Version bereits im tatsächlichen Einsatz zu testen. Wenn es zum Beispiel um die Automatisierung von Arbeitsprozessen in Massenverfahren geht, kann schon dann eine beträchtliche Arbeitsersparnis erreicht werden, wenn der leicht standardisierbare Teil der Fälle von einer Lösung abgedeckt ist. Hier ist der Legal Engineer gefragt, zusammen mit den IT-Spezialisten Lösungsansätze zu entwickeln, die sowohl mit vertretbarem Aufwand technisch umzusetzen sind, als auch den notwendigen Anforderungen an eine sinnvolle juristische Problemlösung genügen, die der Legal Engineer eben auch versteht.

Wie wird man zum Legal Engineer?

Wer den Text bis hierhin gelesen hat, dabei Lust auf IT-Projekte bekommen und vielleicht sogar ein leichtes Kribbeln im Bauch gespürt hat, sollte ernsthaft über eine Karriere als Legal Engineer nachdenken. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass es viel Spaß macht, wenn eine Tätigkeit Fähigkeiten aus ganz unterschiedlichen Bereichen gleichzeitig herausfordert und man dabei ständig kreativ an neuen Lösungen arbeitet. Wenn Sie als Anwältin oder Anwalt Ideen haben, wie Sie Teile Ihrer täglichen Arbeit durch den Einsatz von Software verbessern können, ist der einfachste Schritt, mit vorhandenen oder irgendwo schlummernden eigenen Fähigkeiten einen ersten Prototypen zu bauen. Wenn Sie schon einmal programmiert haben sollten, starten Sie in einer Ihnen vertrauten Entwicklungsumgebung. Auch ohne spezielle Programmierkenntnisse lassen sich mit ein wenig technischem Verständnis Lösungen mit bestehenden Tools entwickeln, die Sie mit einer mehr oder weniger aufwändigen Internetrecherche identifizieren können. Die meisten Anbieter stellen kostenlose Testversionen zur Verfügung, mit denen man direkt loslegen kann. Beispiele für solche Tools sind etwa Hotdocs [http://hotdocs.com/], Xpressdox [http://xpressdox.com/] oder Lawlift [https://www.lawlift.de/] für Dokumentautomatisierung oder Neota Logic [https://www.neotalogic.com/] für die Modellierung von Entscheidungsbäumen. Einfache Prototypen für algorithmische Lösungen juristischer Probleme lassen sich aber auch erstaunlich gut mit MS-Excel erstellen, da man mit diesem Programm die Eingabe von Daten, bestimmte Berechnungen auf Grundlage dieser Daten und die Ausgabe von Ergebnissen sehr frei gestalten kann. Wenn Ihnen für all dies die Zeit oder Spezialkenntnisse fehlen, sprechen Sie mit IT-Spezialisten (inhouse oder extern) über Ihre Ideen. Darin liegt der erste Schritt, um (auch) als Legal Engineer zu arbeiten, denn wenn daraus ein Umsetzungsprojekt entsteht, rutschen Sie schnell ganz automatisch in die beschriebene Schnittstellenfunktion. Wenn Sie sich bei Ihren Ideen noch nicht ganz so sicher sind, sprechen Sie zuerst mit einem Legal Tech-Berater, der Sie bei den ersten Schritten begleiten wird.

Wer noch weiter gehen will und als Jurist ganz zum Legal Engineer werden möchte, sollte gezielt Kanzleien ansprechen, die bereits mit Legal Tech-Lösungen am Markt sind, oder mit Rechtsabteilungen sprechen, ob sie solche Stellen vorsehen. Selbst wenn keine Stelle als Legal Engineer explizit ausgeschrieben sein sollte, kann sich das lohnen, denn Juristen mit IT-Fähigkeiten sind eine oft benötigte Ressource. Eine Chance zum Karrierewechsel mit möglicherweise noch steilerer Lernkurve finden Juristen bei Legal Tech-Unternehmen, insbesondere bei Start-Ups. Die Aufgaben dort gehen am weitesten über die klassischen juristischen Tätigkeiten hinaus und öffnen neue Horizonte. Ein guter Ansprechpartner in diese Richtung ist die neu gegründete Fachgruppe Legal Tech im Bundesverband Deutsche Startups e.V. [https://deutschestartups.org/presse/news/startup-verband-gruendet-neue-fachgruppe-legal-tech/]

Wie findet man Legal Engineers?

Die eben geäußerten Gedanken gelten umgekehrt für Kanzleien, Rechtsabteilungen, Unternehmen und andere Organisationen, die im Legal Tech vorankommen möchten und dafür Legal Engineers suchen. Neben der Ausschreibung entsprechender Stellen sollten Sie öffentlich auf Ihre Projekte aufmerksam machen, das zieht geeignete Bewerber an. Oft lohnt sich auch ein Blick in den eigenen Reihen. Finden Sie heraus, wer von Ihren (in der Regel eher jüngeren) Kolleginnen und Kollegen Interesse an IT hat und Fähigkeiten mitbringt, von denen Sie bisher nichts wussten. Da viele Legal Tech-Produkte aus fixen Ideen und selbst gebauten Prototypen stammen, sollten Sie Freiräume schaffen und Anreize setzen, damit diese entstehen können.

In Zukunft wird es hoffentlich auch mehr und mehr Absolventen geben, die einen Berufseinstieg gezielt im Bereich Legal Tech suchen. Erste Universitäten, darunter die Bucerius Law School, beginnen mit Zusatzangeboten, das entsprechende Interesse bei den Studierenden zu wecken und Grundqualifikationen zu vermitteln. Wenn sich diese Angebote weiterentwickeln, könnte hieraus irgendwann sogar eine neue Studienrichtung entstehen, so etwas wie eine Wirtschaftsinformatik-Zusatzausbildung für Juristen oder ein Wirtschaftsinformatik-Studium mit juristischem Schwerpunkt.

Der Bedarf an qualifizierten Legal Engineers besteht schon heute und wird sich verstärken. Ihre Rolle im Legal Tech darf nicht unterschätzt werden. Treffend formuliert dies Stuart Bart, CSO des Legal Tech-Unternehmens HighQ: “The legal engineers and technologists could be one of the key groups of people that make or break a firm in the near future.” Wer hier für sich und seine Kanzlei Chancen sieht, sollte diesen Weg einschlagen – jetzt ist die spannendste Zeit, um als Legal Engineer anzufangen und erfolgreich zu werden.


Dr. Gernot Halbleib [Link: http://www.gernot-halbleib-legal-tech.de/] ist selbstständiger Legal Tech-Berater und Unternehmer. Er berät seit 2014 Kanzleien und Unternehmen beim Einsatz von Technologie zur Optimierung rechtlicher Arbeitsprozesse und zur Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle. Als externer Projektsteuerer nimmt er dabei oft die Rolle eines Legal Engineers ein. Neben der Qualifikation als Volljurist verfügt er über mehrjährige Erfahrung in der Softwareentwicklung, im IT-Projektmanagement und im Aufbau digitaler Unternehmen. Gernot Halbleib ist Mitglied der Executive Faculty des Bucerius Center on the Legal Profession in den Kompetenzfeldern Legal Tech, Legal Engineering, Entrepreneurship und Legal Innovation.