von Nico Kuhlmann
Legal Tech ist gegenwärtig in aller Munde. Ein Begriff der vor wenigen Jahren noch völlig unbekannt war, ist mittlerweile eines der meist diskutierten Themen in Hörsälen, auf Kanzleifluren und in Tagungsräumen. Dabei sind die Ideen und Konzepte, die den vielen Facetten von Legal Tech zugrunde liegen, nicht neu, sondern bereits seit Jahrzehnten in der Vorbereitung.
Michael Grupp ist Rechtsanwalt, Unternehmer und Legal Tech-Pionier. Er hat mehrere Startup-Unternehmen gegründet, unter anderem Lexalgo, einem Anbieter für Entscheidungsunterstützungssysteme und Rechtsautomation. Er ist Mitglied der Executive Faculty des Bucerius Center on the Legal Profession und dort für die Bereiche Legal Tech, digitale Geschäftsmodelle und Datenschutz zuständig. Mit zwei anderen Anwälten organisiert er zudem die Veranstaltungsreihe Legal Technologies & Innovation in Frankfurt.
Nico Kuhlmann: Lieber Micha, Legal Tech ist aus der Debatte über die Zukunft der Rechtsbranche nicht mehr wegzudenken. Aber leider gibt es noch keine allgemein anerkannte Definition dieses Begriffs. Was verstehst du darunter?
Michael Grupp: Im Weiteren Sinne beschreibt der – sehr marketinggetriebene – Begriff Legal Tech heute irgendwie alles in der Schnittmenge von Rechtsdienstleistung und Technologie. Als Legal Tech werden momentan auch Anwendungen und Dienste bezeichnet, die eher „Technology enhanced“ Services sind, wie Marktplätze, Personaldienstleistungen, Apps oder Ähnliches. Für mich ist Legal Tech im engeren Sinne die Unterstützung oder Erbringung von Rechtsberatung und Rechtsfindung mit Hilfe von Technologie. Das muss sich nicht nur auf juristische Expertensysteme beschränken, das sind alle Anwendungen, die in ihrer technologischen Konzeption und Funktionsweise auf die Spezifika juristischer Arbeit eingehen. Somit verdient auch eine Diktatsoftware den Begriff Legal Tech, wenn sie den juristischen Wortschatz besonders berücksichtigt.
Nico Kuhlmann: Lange bevor die ersten deutschen Juristen über Legal Tech diskutiert haben, gab es bereits die Disziplin der Rechtsinformatik. Was sind die Unterschiede und was können wir aus der Geschichte der Rechtsinformatik lernen?
Michael Grupp: Ja, das stimmt – die Rechtsinformatik reicht weit zurück. Ironische Randnotiz: Auch die Rechtsinformatik hatte lange Schwierigkeiten, sich begrifflich festzulegen und von den parallelen Disziplinen Datenschutz- /Datensicherheitsrecht, Informationsrechts und Ähnlichem abzugrenzen. Die Rechtsinformatik ist der Forschungsbereich der „Technik im Recht“ – also der Erforschung der Möglichkeiten von Dokumentation, Abbildung und Findung von Recht mit Technikhilfe. Das entspricht eigentlich dem Legal Tech im engeren Sinne und zeigt, dass sich Juristen mit dem Thema schon seit Aufkommen der Informatik in den 1950ern beschäftigen. Die Rechtsinformatik hat auch längst juristisch-technologische Machbarkeiten untersucht und Grenzen aufgezeigt. Allerdings hat sie – natürlich limitiert durch die IT-Realitäten der 1970er und 1980er Jahre – nur in Ausnahmen versucht, die wenigen wirklich funktionierenden Aspekte in den Markt zu bringen. Es lohnt sich also sehr, sich in den Kenntnisstand der Rechtsinformatik einzuarbeiten. Das meiste war schon einmal da und viele Ansätze wurden schon einmal untersucht.
Nico Kuhlmann: Mit Deinem Unternehmen Lexalgo gehörst Du zu den Legal Tech-Pionieren in Deutschland. Seit wann seid Ihr am Markt aktiv und was genau bietet Ihr an?
Michael Grupp: Lexalgo gibt es schon seit 2012 – richtig marktfähig war die Technologie aber erst 2014. Wir haben Erkenntnisse der Expertensystemforschung der 1980er Jahre in ein neues Gewand gepackt und auf zeitgemäße Technologien und Möglichkeiten angepasst. Lexalgo bietet eine Software an, mit der juristische Inhalte interaktiv abgebildet werden können um Prüfungen automatisierbar zu machen. Sehr einfach gesprochen: Wir bauen Entscheidungsbäume. Wer häufig ähnliche aber aufwändige Prüfungen durchführen muss, bekommt mit Lexalgo-Modulen kleine Expertensysteme, die Entscheidungen beschleunigen können.
Kern der Software ist ein Autorenprogramm, also ein Editor, mit dem Benutzer auch ohne IT-Kenntnisse Regeln abbilden können. So ein Tool – speziell für den juristischen Bereich – gab es nicht, das mussten wir selbst entwickeln. Dazu braucht es dann noch etwas KnowHow der Mitarbeiter, auch komplexe juristische Inhalte aufzubereiten.
Nico Kuhlmann: Was waren Eure größten Herausforderungen und was hast Du daraus gelernt? Welche Tipps hast Du für andere Gründer?
Michael Grupp: Bis 2014 wusste kaum jemand, was Legal Tech ist. Wir haben damals sogar klarstellend das Unternehmen Lexalgo Legal Tech genannt, um den Begriff konkret zu machen. Trotzdem war es schwierig, einen Markt quasi zu begründen: Wir wurden zwar vom Maschinenbau-Mittelständler bis zur internationalen Großbank von vielen Unternehmen eingeladen, die wissen wollten, was wir da machen. Trotzdem hat es lange gedauert, bis es zu Verträgen kam – die wirklichen Sorgen in Rechtsabteilung und Kanzlei bestanden in viel trivialeren Herausforderungen. Das ändert sich gerade, aber wir waren unserer Zeit etwas voraus. Der Spruch „Produkte am Kunden entwickeln“ ist dann aber trotzdem eine Binsenweisheit, weil wir ja nicht die Großkanzlei verlassen haben, um zum Beispiel Dokumentenmanagement-Systeme zu verkaufen, sondern vom Innovationskern von Lexalgo überzeugt sind. Wirklich erfolgreich war dann auch zunächst ein Tool für Ärzte: Unsere Anwendung für Radiologen mit der Charité Universitätsmedizin Berlin, die läuft inzwischen in über 80 Krankenhäusern weltweit. Parallel wurde unsere (juristische) Engine gemeinsam mit der European Space Agency (ESA) weiterentwickelt. Jetzt, drei Jahre später, kommen fast täglich auch konkrete Anfragen von Unternehmen, die ihre Entscheidungsprozesse digitalisieren und automatisieren. Ein Learning für Gründer: Timing nicht unterschätzen.
Nico Kuhlmann: In den USA wird mittlerweile vermehrt zwischen “Practice of Law” und “Business of Law” unterschieden. Ist der Rechtsmarkt ein besonder Markt oder versuchen wir uns das nur einzureden?
Michael Grupp: Die Unterscheidung gefällt mir ganz gut, obwohl sie natürlich die De-Professionalisierungsbewegung wiederbelebt. Als Rechtsanwalt sehe ich das kritisch. Aber die Unterscheidung betont den Dienstleistungscharakter der Rechtsberatung und zeigt, dass längst ein ganzes Ökosystem aus Anwendungen existiert, die rund um die klassische Rechtsberatung zwischen Anwalt und Mandant andocken. Außerdem klingt dabei auch an, dass Rechtsberatung und „Rechtsvermarktung“ zweierlei sind.
Klar, der Rechtsmarkt ist besonders, aber nicht nur wegen § 1 RDG. Er ist national beschränkt, stark heterogen und fast ohne Strukturen, die man als „Corporate Layer“ bezeichnen kann: Professionelle Marketing- und Vertriebsaktivitäten, Personalmanagement, Unternehmensplanung oder Ähnliches finden sich nur in wenigen Großkanzleien, und auch dort nur bei einzelnen Stellen. Die durchschnittliche Kanzlei wird sich mit Themen wie Markenbildung oder Kundenbindungsstrategien im Alltag kaum wirklich beschäftigen. Und Forschung und Entwicklung gibt es (wie ich oft beklage) fast überhaupt nicht – das ist für eine 20 Mrd. EUR Umsatz-Branche mindestens bemerkenswert.
Nico Kuhlmann: Du gehörst als Unternehmer zur Speerspitze der gegenwärtigen Entwicklungen. Was ist Deiner Ansicht nach in den nächsten Jahren machbar und was nicht? Was sind die größten Herausforderungen an der Schnittstelle von Recht und Technologie?
Michael Grupp: Wie schon oben gesagt, hat die Rechtsinformatik bis in die 1990er vieles bereits theoretisch untersucht und auch ernüchternd die Machbarkeitsgrenzen für technologische Neuerungen beschrieben. In technischer Hinsicht wird deshalb in den nächsten Jahren bei Weitem nicht so viel kommen, wie einen die „Robo-Anwalt“-Titelseiten glauben lassen. Soweit ich das sehe, sind alle verfügbaren Anwendungen technologisch seit Jahrzehnten bekannt. Auch wir setzen ja eine Technologie ein, die vor 40 Jahren diskutiert wurde. Alleine die Gegebenheiten des Marktes haben gefehlt – Software ist erst seit den 2000ern wirklich in Unternehmen und Kanzleien angekommen, das Internet erlaubt Plattformmodelle, die Möglichkeiten der Cloud sind erst seit kurzem nutzbar und mobile Endgeräte bringen Dienstleistungen bis ans Bett. Erst heute gibt es formalisierte Daten. Das ist gerade das Neue an Legal Tech: Mit den veränderten Indienststellungsmodellen und Vertriebswegen ändern sich die Rahmenbedingungen für Technologie im Verhältnis zur Branche.
Es gibt eigentlich nur einen Bereich, der erst in den letzten Jahren mit neuen Erkenntnissen belebt wurden: Machine Learning bzw. Deep Learning. Aber auch hier bleiben bahnbrechende Änderungen für Juristen noch rar: Die Modelle brauchen sehr viele und geeignete Daten, das ist bereits problematisch und in Deutschland fast unlösbar. Zweitens ist die Erlernung der juristischen Semantik erheblich komplexer als beispielsweise die einfache Mustererkennung bei Bild und Ton oder anderen textuellen Informationen. Aber die Kooperationen der KI-Forschung mit den Linguisten beobachte ich mit Spannung – anders als Themen wie die Blockchain: für juristische Anwendungsbereiche überschätzt.
Große Veränderungen kommen mittelfristig deshalb wahrscheinlich von außerhalb des Rechtsmarkts: der Markt findet zunehmend Lösungen, den Bedarf nach Rechtsberatung – die ja keinen Mehrwert bringt – zu verhindern, wie man beispielsweise am E-Commerce sieht. Dazu werden immer mehr juristische Informationen kostenlos verfügbar und sind außerdem bereits in Produkten und Prozessen hinterlegt. Wird beispielsweise einmal die Frage der Haftung für selbstfahrende KFZ geklärt und beginnt die Verbreitung, werden die Fallzahlen aus Verkehrsrecht drastisch sinken. Ähnliches wird sich in anderen Bereichen zeigen.
Nico Kuhlmann: Wo steht Lexalgo in 5 Jahren? Was hat sich bis dahin alles geändert?
Michael Grupp: Wir sind natürlich der weltweit führende Anbieter für Rechts-Automationen (lacht). Nein, im Ernst, bin ich mir sicher, dass der Bedarf nach einem Toolset für Automationen in den nächsten Jahren steigt. Es fehlen die richtigen technischen Hilfsmittel, um juristische Inhalte richtig darzustellen und Nutzern – Mandanten wie Kunden – richtig anzubieten. Word, Excel und PowerPoint reichen da nicht. Wir prüfen deshalb auch, unser Editoren-Toolset frei zugänglich zu machen. Dann kann sich jeder Jurist kleine Unterstützungstools selbst erstellen und seine Expertise interaktiv anbieten.
Nach dem Abflauen des derzeitigen Hypes um Legal Tech wird die Verzahnung von Recht und Technik hoffentlich bestehen bleiben, aber das trifft auf alle Branchen zu.
Nico Kuhlmann: Der deutsche Rechtsmarkt ist umfassend reguliert. Brauchen wir in Bezug auf Legal Tech noch mehr oder eher weniger Regulierung?
Michael Grupp: Das kommt darauf an. Bezogen auf Daten und Inhalte halte ich die derzeitigen und absehbaren (DSGVO) Regelungen für unternehmens- und innovationsfeindlich. Datenschutz soll nicht Daten schützen, sondern Menschen – datenbasierte Forschung gerade im juristischen Kontext ist nur erschwert möglich. Ähnliches trifft übrigens auf Patientendaten zu. Und die Arbeit mit Daten restriktiv und praxisfern zu regulieren schützt deutsche Verbraucher überhaupt nicht, wenn die tatsächliche Arbeit mit Daten dann Softwareanbietern aus Übersee überlassen bleibt, die sich über nationale und EU-Regelungen ohnehin hinwegsetzen können.
Auf der anderen Seite haben wir aber auch erhebliche Regelungslücken: Erst vor wenigen Tagen wurde das Outsourcing-Gesetz verabschiedet, nach dem auch externe Dienstleister bei der Rechtsberatung zulässig werden. Erst jetzt wird der Einsatz von einem externen Übersetzungsdienst rechtssicher möglich. Ein vernünftiges Regelwerk für zeitgemäße Technologien fehlt aber noch ganz, Datensicherheit ist nach wie vor wolkig, Software-as-a-Service bleibt wilder Westen.
Nico Kuhlmann: Die Rechtsbranche wird sich durch die Digitalisierung grundlegend verändern. Wie sollten wir die Studierenden darauf vorbereiten? Müssen Universitäten ihre Lerninhalte überdenken?
Michael Grupp: Eindeutig ja. Wie wir beide ja vor kurzem auf Twitter schon einmal ironisch bemerkt haben, bringen wir Studierenden und Referendaren Inhalte bei, die zwar Denkweise und Lösungsroutinen schulen, aber inhaltlich die Alltags- und Berufsrealität verfehlen. Damit meine ich nicht unbedingt nur Technologisches, auch betriebswirtschaftliche und marketing- oder strategiebezogene Inhalte fehlen. Aber die Digitalisierung ist bisher am Prüfungskanon weitgehend vorbeigezogen. Man hört zunehmend, Anwälte sollten programmieren können, das ist übertrieben – jedenfalls nicht nur, weil sie Anwälte sind. Aber das Wissen um Informationstechnologie und damit zusammenhängende Aspekte ist nicht vorhanden und wird nicht vermittelt. Examensrelevant sind fünf Theorien zur Inzahlunggabe von Gebrauchtwagen aber die Rechtsverhältnisse beim Carsharing sind – wenn überhaupt – Sonderfall im Schwerpunktbereich.
Und die Weisheit, dass früher der Große den Kleinen geschluckt hat und heute der Schnelle den Langsamen, könnte ruhig auch auf die Juristenausbildung abfärben. Brauchen wir wirklich eine rund 8-jährige Ausbildung?
Nico Kuhlmann: Lieber Micha, vielen Dank für das Interview und weiterhin viel Erfolg für Deine Projekte.