Die Rechtswissenschaft und Rechtspraxis in Deutschland stehen an einem kleinen Wendepunkt in Sachen Zugang zum Recht und Automatisierung in der Justiz. Eine große Hürde für die Beratung aber auch die Wissenschaft sind fehlende veröffentlichte Urteile. Laut Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz ist der Anteil veröffentlichter Urteile deutlich unter drei Prozent aller Entscheidungen. Neue Anonymisierungsanwendungen sollen nun einen Fortschritt bringen.
Bedeutung für den Rechtsmarkt
Wer sich einen Überblick über die Rechtsprechung verschaffen möchte stößt schnell auf Schranken. Urteile bleiben häufig unter Verschluss. Nur wenn die Urteile zuvor sorgfältig anonymisiert wurden, können Urteile überhaupt veröffentlicht werden. Dieses manuelle Verfahren bremst nicht nur Transparenz und Rechtsforschung, sondern auch technologische Innovationen aus.
Genau hier setzt nun eine Neuerung in der Justizdigitalisierung an. In Baden-Württemberg ist ein KI-gestütztes Anonymisierungstool mit Namen „JANO“ in Betrieb genommen worden. Die Software wurde gemeinsam mit der hessischen Justiz entwickelt und steht den Zivilabteilungen der Oberlandes-, Land- und Amtsgerichte im Land unmittelbar zur Verfügung. Das Tool durchsucht Gerichtsentscheidungen automatisiert nach personenbezogenen Daten und schlägt Schwärzungen oder Ersetzungen vor, die anschließend von Justizbeschäftigten geprüft und freigegeben werden. Diese technische Assistenz soll nicht nur die tägliche Arbeit erleichtern, sondern auch Ressourcen freisetzen, damit mehr Urteile überhaupt erst den Schritt in die Öffentlichkeit schaffen können.
Händische Anonymisierung als großer Blocker
Baden-Württembergs Ministerin für Justiz und Migration Marion Gentges betont in der offiziellen Mitteilung, dass gerade Entscheidungen, die grundlegende Rechtsfragen klären oder Rechtsprechung fortentwickeln, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten. Die bisherige Praxis, umfangreiche Entscheidungen Seite für Seite händisch zu anonymisieren, sei aufwendig und personalintensiv. Mit „JANO“ bleibt dieser Schutz der Persönlichkeitsrechte gewahrt, doch die Justiz kann deutlich effizienter arbeiten. Dass die Anonymisierung durch natürliche Personen die größte Hürde für die Veröffentlichungen von Urteilen darstellt, bestätigte auch Niedersachsens Justizministerin Wahlmann in einem Gespräch auf dem German Legal Tech Summit in Hannover dieses Jahr.
Die Bedeutung dieser Entwicklung liegt nicht allein in der Effizienzsteigerung. Vielmehr eröffnet die Automatisierung der Anonymisierung neue Perspektiven für einen breiteren Zugang zu Rechtsprechung. Mehr veröffentlichte Urteile bedeuten mehr Daten für die rechtswissenschaftliche Forschung, mehr Material für Legal Tech-Projekte und eine bessere Nachvollziehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen für Bürgerinnen und Bürger. Während in Deutschland bislang die Veröffentlichung über die Gerichte selbst oder über kommerzielle Datenbanken erfolgt, könnte eine automatisierte Vorbearbeitung künftig mehr Transparenz in das Rechtssystem bringen.
Auch andere Bundesländer wollen automatisieren
Und es bewegt sich etwas über Baden-Württemberg hinaus. Auch in Niedersachsen wird an einer technischen Lösung gearbeitet, die ebenfalls auf KI-Methoden basiert. Im Rahmen eines Proof-of-Concept-Projekts hat Niedersachsen ein Tool entwickelt, das neuronale Netze zur Erkennung und Klassifizierung personenbezogener Daten nutzt und darüber hinaus Funktionen wie die Erstellung von Leitsätzen, Verschlagwortung und Metadatenerfassung unterstützen soll. Interessanterweise hat das Land dabei ein Anonymisierungswerkzeug aus einem Forschungsprojekt der Universität Erlangen-Nürnberg getestet, das sich durch eine sehr geringe Rate falsch positiver Erkennungen ausgezeichnet hat, was die manuelle Nachbearbeitung reduziert. Dieses Instrument wird aktuell im Oberlandesgerichtsbezirk Celle erprobt und könnte Bestandteil einer weiterentwickelten Methodik werden, die Niedersachsen im Rahmen seiner Digitalisierungsinitiativen plant.
Die Mühlen der Länder mahlen
Was zeichnet all diese Entwicklungen aus? Es ist nicht nur die Anwendung von Lösungen zur Automatisierung an sich. Vielmehr ist es der Paradigmenwechsel in der Justiz. Die Mühlen in der Justiz mahlen langsamer als in der freien Wirtschaft, aber sie mahlen. Und am Ende ist die Veröffentlichung von Entscheidungen ein wichtiges Instrument. Für die Beratung entsteht dadurch ein weit größerer Fundus an verarbeitbaren Entscheidungen, für Legal Tech-Fans eröffnen sich neue Ansätze für Analyse- und Recherchewerkzeuge, und für die Allgemeinheit bedeutet es einen greifbareren Zugang zu dem, was Rechtsprechung tatsächlich ausmacht.
Diese Entwicklungen stehen exemplarisch für den stillen, aber tiefgreifenden Wandel in der digitalen Justizlandschaft Deutschlands. Wenn mehr Urteile verfügbar sind, wird der Rechtsschutz nicht länger versteckt, sondern tritt transparenter hervor. Die Justiz wird damit nicht nur effizienter, sondern auch bürgernäher.