von Nico Kuhlmann
Die digitale Transformation, die bereits viele Lebensbereiche nachhaltig verändert hat, wird in der einen oder anderen Form auch die deutschen Gerichte erfassen. Während sich bei der Anwaltschaft langsam abzeichnet, welche Veränderungen sich in der nächsten Zeit entfalten werden, steht die Diskussion um die Digitalisierung der Justiz noch ziemlich am Anfang.
Benedikt Windau, geborener Meyer, hat an der Bucerius Law School in Hamburg und an der Cornell University in Ithaca, New York, Rechtswissenschaften studiert. Seit August 2012 ist er im niedersächsischen Justizdienst und arbeitet seit 2016 als Richter am Amtsgericht Cloppenburg. Zudem ist er Mitglied des niedersächsischen Landesjustizprüfungsamts. Überregional bekannt ist Benedikt Windau unter anderem durch den von ihm betriebenen zpoblog.de.
Nico Kuhlmann: Lieber Benedikt, was bedeutet Digitalisierung für Dich? Und bist Du der Meinung, dass wir Juristen zuviel oder zu wenig darüber reden?
Benedikt Windau: Digitalisierung ist für mich alles, wo elektronisch Datenverarbeitung und Datenübermittlung unser Leben verändert – aber ich bin da nur Nutzer und habe mich nie damit befasst, es gibt sicherlich bessere Definitionen.
Und ob Juristen darüber zu viel oder zu wenig reden? Da teilt sich die Juristenwelt vermutlich: Es gibt immer noch viele Richter/Richterinnen und Anwälte/Anwältinnen, die das Thema nach Möglichkeit zu vermeiden suchen und hoffen, dass das an ihnen vorübergeht. Mir fallen da beispielsweise GMX- oder Hotmail-Adressen auf Anwaltsbriefköpfen ein. Da werden wohl manche Juristen noch von der Realität überholt werden. Und es gibt in meiner Wahrnehmung ebenso Juristen, die in einer Digitalisierung die Lösung für alle Probleme sehen – häufig unter dem Stichwort Legal Tech. Auch das scheint mir zweifelhaft. Aber – auch wenn es eine furchtbare Phrase ist: Das Thema Digitalisierung wird man kaum unterschätzen können.
Nico Kuhlmann: Gegenwärtig wird hauptsächlich über die elektronische Übertragung von Schriftsätzen und die elektronische Akte diskutiert. Bei beiden Projekten wird ein bestehender analoger Prozess digitalisiert, ohne diesen grundlegend zu überdenken. Welche darüber hinausgehenden Projekte für die Justiz wünscht Du Dir als Richter?
Benedikt Windau: Wenn tatsächlich die Aktenführung und die Kommunikation mit allen Prozessbeteiligten elektronisch abläuft und das technisch auch zuverlässig funktioniert, wäre schon viel gewonnen. Dass interne Abläufe auch 2018 noch dazu führen, dass ein – selbstverständlich papierner, vorab per Fax übermittelter – Schriftsatz mehrere Tage braucht, um von der Posteingangsstelle seinen Weg in die Akte oder zum Dezernenten zu finden, kann man Außenstehenden nur schwer erklären.
Sonst finde ich, dass beispielsweise Unterhaltsberechnungsprogramme und die sonstige Justizsoftware, die teilweise Entscheidungsentwürfe erstellt, schon ein großer Fortschritt sind. Die Programme sind in der Benutzerfreundlichkeit allerdings meist eher furchtbar und auch die Verzahnung mit der elektronischen Akte wird sicherlich noch spannend werden. Da ist tatsächlich manchmal das Problem, dass analoge Abläufe nur digitalisiert und nicht insgesamt überdacht werden. Eine Frage der Zeit ist außerdem sicherlich eine Software, die Fristen oder die Vollständigkeit von Unterlagen vorprüft.
Sonst kann ich nur für die Ziviljustiz sprechen und da gibt es im Kern meiner Einschätzung nach nur wenig Änderungsmöglichkeiten. Ich kann mir den Kern staatlicher Justiz nicht anders vorstellen, als dass ein aus Personen bestehendes Gericht Argumente abwägt und prüft, welche Tatsachen es seiner Entscheidung zugrunde legen muss.
Nico Kuhlmann: Die deutsche Zivilprozessordnung trat am 1. Oktober 1879 in Kraft. Welche Gesetzesänderungen sind deiner Meinung nach notwendig, um die ZPO fit für das 21. Jahrhundert zu machen?
Benedikt Windau: Das Problem ist weniger die ZPO als die Ausstattung der Justizbehörden. Die ZPO ist da schon sehr fortschrittlich und ermöglicht beispielsweise schon seit dem Jahr 2002 eine Verhandlung in Abwesenheit “im Wege der Bild- und Tonübertragung”, wie es in § 128a ZPO heißt. Die Vorschrift läuft aber tatsächlich fast vollständig leer, weil es kaum Gerichtssäle gibt, die mit der erforderlichen Technik ausgestattet sind. Und ob genügend Anwältinnen und Anwälte die erforderliche Technik vorhalten, weiß ich auch nicht.
Nico Kuhlmann: Welche Technik ist deiner Meinung nach erforderlich? Was würde deinen Arbeitsalltag und den der Parteien erleichtern?
Benedikt Windau: Ich selbst verhandele in einem Gerichtssaal, den ein sehr technikaffiner Kollege gegen viele Widerstände mit einem PC und insgesamt drei Monitoren ausgestattet hat: Einen für den Richter oder die Richterin und eine für jede Parteiseite. Das ist eine enorme Arbeitserleichterung, weil man das für viele Zwecke einsetzen kann. Ganz praktisch zum Beispiel für Unterhaltsberechnungen. Wenn man die visualisiert, werden sie häufig viel nachvollziehbarer, was Vergleichsgespräche vereinfacht. Oder man kann sich dort gemeinsam mit den Parteien und Zeugen eine Unfallstelle bei Google Maps anschauen oder Videos abspielen, wenn der BGH in einigen Wochen Dashcam-Videos als Beweismittel zulässt. Und selbstverständlich könnte man darüber Videoverhandlungen i.S.d. § 128a ZPO führen, gesetzt den Fall, es gibt eine funktionierende Konferenzsoftware – und da bin ich ehrlich gesagt schon überfragt, was sicher auch Bände spricht.
Das Problem ist, dass eine solche technische Ausstattung schon als fortschrittlich gilt und bei den meisten Anwältinnen und Anwälten auf Verwunderung stößt. Statt Regelungen in der ZPO bräuchte es eine Ausstattung aller Gerichtssäle mit Computern, genügend großen Monitoren und Videotechnik. Aber das würde im Gegensatz zu neuen Gesetzen vermutlich eine Menge Geld kosten und daran fehlt es ja irgendwie immer.
Nico Kuhlmann: China hat kürzlich ein Online-Gericht eingerichtet, um über Internet-Streitigkeiten zu verhandeln. Das Gericht ist in der Lage alle Aspekte eines Verfahrens online durchzuführen. Auch das Vereinigte Königreich experiment mit virtuellen Gerichtssälen. Wäre sowas auch etwas für Deutschland?
Benedikt Windau: Das Prinzip der Mündlichkeit in seiner klassischen Ausprägung hat durchaus seine Daseinsberechtigung, weil es schon etwas anderes ist, mit jemandem von Angesicht zu Angesicht zu sprechen oder zu skypen. Deshalb sollte es jedem möglich sein, sein Anliegen dem Gericht in Anwesenheit mündlich zu schildern.
Aber selbstverständlich sollte man darauf auch verzichten können; auf diejenigen Verfahrensvorschriften, die noch von einer Papierakte ausgehen und erst recht auf eine Verhandlung in Anwesenheit. Auf freiwilliger Basis und mit Zustimmung der Parteien habe ich gegen solche Spezialgerichte deshalb keine Bedenken, ganz im Gegenteil: Gerade wenn das persönliche Erscheinen der Parteien nicht angeordnet ist und damit im Ergebnis nur Anträge aufgenommen und die Sach- und Rechtslage mit den Anwältinnen und Anwälten erörtert wird, ist eine Videoverhandlung ein sinnvoller Mittelweg zwischen schriftlichem Verfahren und einer mündlichen Verhandlung, zu der diese anreisen müssen.
Aber noch einmal: Das ist keine Frage neuer Gesetze, das ginge rechtlich schon seit 2002! Es fehlt an der Technik in den Gerichtssälen und an entsprechenden Schulungen.
Nico Kuhlmann: Gibt es gar keine neuen gesetzlichen Regelungen, die das gerichtliche Verfahren angesichts der Digitalisierung verbessern könnte?
Benedikt Windau: Doch, im Zustellungsrecht. Das wird besonders augenfällig, wenn man sieht, dass insbesondere Facebook und Google in Deutschland Geschäfte betreiben, eine .de-Domain verwenden und unendlich viele Kommunikationswege betreiben – man ihnen aber in Deutschland keine Dokumente zustellen kann! Auch der Zustellungsbevollmächtigte nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) muss nur genau dafür bestellt werden, nicht für sonstige Zustellungen.
Und irgendwie stammt auch das Konzept eines Zustellungsbevollmächtigten aus dem vorletzten Jahrhundert. Warum verpflichtet man Unternehmen nicht einfach, eine E-Mail-Adresse, ein Upload-Center oder etwas Ähnliches vorhalten, wenn sie in Deutschland Geschäfte machen? Und wenn die Zustellung dort nicht funktioniert, dann kann eben öffentlich zugestellt werden, ähnlich § 185 Nr. 2 ZPO. Damit könnte man vieles vereinfachen.
Nico Kuhlmann: Ein Startup aus Estland bietet eine Streitbeilegung durch die Crowd an. Die Idee verhält sich zur traditionellen Gerichtsbarkeit, wie die Wikipedia zum Brockhaus. Ist eine solche Streitbeilegung Deiner Meinung nach der Untergang des Rechtsstaats oder die unmittelbarste Form einer Rechtsprechung “im Namen des Volkes”?
Benedikt Windau: Das ist ein interessantes Experiment, hat aber mit Recht eigentlich nichts zu tun, also auch nicht mit Justiz. Und das kann ich mir in Deutschland nicht vorstellen, es wäre auch zu Recht mit den Regeln über das Schiedsverfahren nicht zu vereinbaren. Dass Konfliktlösung selbst in Schiedsgerichten in bestimmten, rechtsstaatlich gesicherten Bahnen verläuft, ist durchaus auch eine kulturelle Errungenschaft.
Nico Kuhlmann: Mit Richterscore.de exisitert seit letztem Jahr eine erste Bewertungsplattform für Richter in Deutschland. Was hältst Du als Bewerteter davon?
Benedikt Windau: Dazu kann ich nichts sagen, ich weiß ja nicht, was da über mich steht! Nein, im Ernst: Es gibt heute – soweit ich weiß – schon große und geschlossene Facebook-Gruppen und Foren, in denen Anwälte diskutieren – sicherlich nicht nur Rechtsfragen, sondern auch Richterpersönlichkeiten. Und wenn in einer Stadt mehrere Anwältinnen oder Anwälte zusammensitzen, werden die vermutlich auch über die Richterinnen und Richter reden – das ist umgekehrt ja auch so. Deswegen verstehe ich das bei diesem Thema verbreitete Bedenkenträgertum nicht. Denn im Ergebnis ist Richterscore.de mit einer professionellen Moderation und Authentifizierung eher ein Vorteil und kann dabei helfen, solches “Getratsche” in geregelte Bahnen zu lenken.
Und ganz ehrlich: Richterliche Unabhängigkeit heißt nicht, dass Richterinnen und Richter nicht kritisiert werden dürften. Im Gegenteil: Gerade weil Richterinnen und Richter keiner fachlichen Dienstaufsicht unterstehen, ist öffentliche Kontrolle so wichtig. Wenn ich in so einem Bewertungsportalen übermäßig schlecht wegkomme, würde ich das eher als Anlass sehen, meine Arbeitsweise und vielleicht auch meine Arbeitseinstellung zu überprüfen.
Was ich aber gut fände: Interessierten Richterinnen und Richtern eine Möglichkeit zu geben, ihre Bewertungen abzurufen. Das wäre vermutlich ein hilfreiches Feedback, das man leider in meinem Beruf kaum bekommt.
Nico Kuhlmann: Unter dem Stichwort Legal Analytics machen zudem Ansätze von sich reden, die durch eine massenhafte Auswertung von bisherigen Entscheidungen eine Vorhersage über zukünftige Urteile versprechen. Ist sowas eine Gefahr für die Gerichtsbarkeit oder ein zeitgemäßer Beitrag für mehr Rechtssicherheit?
Benedikt Windau: Das unterschätzt meiner Ansicht nach, wie viele Entscheidungen gerade in erster Instanz von tatsächlichen und nicht von rechtlichen Fragen abhängen. Und wie Menschen sich entscheiden, lässt sich zum Glück im Einzelfall kaum vorhersagen. Es käme vermutlich heraus, dass es eine unbewusste Tendenz gibt, so zu entscheiden, dass man sich Mehrarbeit erspart. Wenn man beispielsweise eine Klage schon dem Grunde nach abweist, braucht man über die Höhe keinen Beweis mehr zu erheben. Aber das ist dann eher eine Frage der Entscheidungspsychologie.
Nico Kuhlmann: Die Zahl der Zivilverfahren sinkt seit Jahrzehnten stetig. Zudem wird regelmäßig die Rückständigkeit der deutschen Gerichte beklagt. Wo siehst Du die deutsche Justiz in 10 oder in 20 Jahren? Was wird sich verändert haben und was wird gleich geblieben sein?
Benedikt Windau: Prognosen sind ja immer schwierig, weil sie die Zukunft betreffen. Aber Zivilprozesse und Zivilgerichte gibt es schon mehrere hundert Jahre und die bisherigen technischen Veränderungen haben sie nicht überflüssig gemacht. So lange sich Menschen streiten und es eine funktionierende staatliche Ordnung und ein Gewaltmonopol gibt, wird es wohl auch Zivilprozesse geben. Und ich wage mal die Prognose, dass die, auch wenn ich in den Ruhestand gehe, im Kern nur wenig anders aussehen werden als heute. Allerdings wird sich die Art der Prozessführung durch technische Entwicklungen sicherlich stark ändern.
Nico Kuhlmann: Was genau meinst du damit? Wie wird sich deiner Einschätzung nach die Prozessführung durch den technologische Fortschriftt verändern?
Benedikt Windau: Anwesenheit wird weniger wichtig werden, wie schon gesagt. Manches andere – Fristen, Vollständigkeit, etc. – wird Software vorprüfen können. Datenverarbeitung wird in vielen Fällen Beweisprobleme beseitigen – sicherlich aber auch neue schaffen.
Nico Kuhlmann: Du bist Mitglied in einem Landesjustizprüfungsamt. Muss Deiner Einschätzung nach die Ausbildung der Juristen angepasst werden, um diese zukunftstauglich zu machen?
Benedikt Windau: In Bezug auf Technik oder Legal Tech? Das weiß ich nicht. Die deutsche Juristenausbildung leidet nach meiner ganz persönlichen Meinung aber stark darunter, dass sie zugleich Juristenausbildung und rechtswissenschaftliches Studium sein soll, was kaum möglich ist.
Nico Kuhlmann: Lieber Benedikt, vielen herzlichen Dank für das Interview!