Legal Tech 2017: Ein Rückblick in 10 Punkten (Teil 1)

Isn’t funny, how day by day nothing changes but when you look back everything is different” (C.S. Lewis)

Es fällt im Tagesgeschäft häufig schwer, bestimmte Entwicklungen zu sehen, zu “fühlen”, richtig einzuordnen und in ihren Auswirkungen zu verstehen. Blickt man zurück, zeigen sich hingegen bestimmte Entwicklungslinien klarer, die sich in einen längerfristigen Entwicklungstrend einordnen. Das Jahresende ist hierfür ein zugegebenermaßen relativ willkürlicher Zeitpunkt. Allerdings bieten die ruhigen Weihnachtstage und die Zeit zwischen den Jahren aber auch den notwendigen Abstand, um – abseits der Hektik des Alltags – das Jahr 2017 Revue passieren zu lassen.

Aus der Sicht des Legal Tech Blog-Teams lässt sich das Jahr 2017 in 10 Punkten zusammenfassen:

1. Legal Tech wird immer mehr zum Mainstream

Noch vor 2 Jahren war das Wort Legal Tech für die allermeisten Anwälte ein Fremdwort. Das Jahr 2017 war gekennzeichnet von einer Vielzahl von Veranstaltungen und Konferenzen, die sich des Themas Legal Tech und Digitalisierung der Rechtsbranche in seinen unterschiedlichen Facetten annahmen. Es seien beispielhaft der Anwaltszukunftskongress 2017, der bereits in die zweite Runde ging, die “Berlin Legal Tech” mit zweitägigem Hackathon und anschließender Konferenz, ELTA´s First Conference in Berlin, die aus einer Kombination aus Messe und Kongress bestehende “Legal Revolution” in Frankfurt am Main genannt. Auch der Deutsche Anwaltstag 2017 in Essen stand unter dem Motto “Innovationen und Legal Tech”. Im europäischen Ausland gibt es zahlreiche weitere große Events. Jeder, der sich über Legal Tech und die neuesten Entwicklungen informieren wollte, hatte hierzu also ausreichend Gelegenheit.

Viele Kanzleien und Rechtsabteilungen haben mittlerweile dezidierte Legal Tech-Beauftragte oder Digital Transformation-Manager eingestellt und beschäftigen sich intensiv mit dem Thema, was Digitalisierung in der Rechtsbranche bedeutet und welche konkreten Schritte hiefür erforderlich sein könnten. In Behörden und Gerichten wird das Thema Digitalisierung ebenfalls angepackt. Anwaltskammern und auch die politische Spähre beschäftigt sich mit dem Phänomen Legal Tech (hierzu sogleich).

Die Legal Tech-Szene in Deutschland hat sich weiter ausgebildet und dient als Resonanzkörper sowie Impulsgeber, um Ideen und Entwicklungen auf hohem Niveau zu diskutieren und zu bewerten. Die Szene zeichnet sich für eine – in der Rechtsbranche eher ungewöhnliche – Ungezwungenheit und Offenheit aus. Es ist zu wünschen, dass die in 2017 gelebte Offenheit und Freiheit, Dinge anders zu denken und anzugehen, in Zukunft beibehalten wird. Ein “closed shop” wäre fatal für die Grundüberzeugungen von Legal Innovation und Digitalisierung. Legal Tech möchte das Gegenteil: Es sollen künstliche Barrieren, die Rechtsbranche als “Gatekeeper” in der Vergangenheit aufgebaut hat, eingerissen werden. Ein zentrales Thema der Digitalisierung der Rechtsbranche muss es sein, neue Zugänge zum Recht zu schaffen. Es geht um einen offeneren und faireren Zugang zum Recht. Am Ende der Digitalisierung muss stehen, dass sich jeder sein Recht auch leisten kann und es in akzeptabler Zeit auch bekommt. In 2017 war erfreulicherweise zu beobachten, dass eine derartige Akzentuierung – trotz einer gewissen Mainstream-Orientierung – erfolgte.

2. Legal Tech-Hype?

Ist das nicht alles Hype? Solche oder ähnliche Fragen gehörten auf jeder Legal Tech-Veranstaltung in 2017 zum Standardrepertoire. Je nach Gemütsstimmung war man durch die Frage bemüht, realistische Erwartungen in Bezug auf Legal Tech zu befördern oder – am anderen Ende des Spektrums –  dem Gefühl Ausdruck zu verleihen, dass das mit Legal Tech “eh alles Quatsch” sei.

Es soll hier nicht um die Frage gehen, ob in Deutschland “gerade”, “noch nicht” oder “nicht mehr” einen Hype – laut Duden entweder eine “mitreißende Werbung”, “Täuschung” oder ein “Rummel” –  um Legal Tech gibt. Das hilft in der Sache nur bedingt weiter. Vielmehr soll der Blick darauf gelenkt werden, dass ein gewisser “Rummel” ein normaler Zwischenschritt von Innovation ist und zu einer Marktdurchdringung und Akzeptanz führt.

Zwei Thesen zum vermeintlichen Legal Tech-Hype in Deutschland:

a. Hype ist ein notwendiger Bestandteil jeder technischen Neuerung und daher weder gut noch schlecht

Der Gartner Hype Cyle beschreibt zumeist sehr akkurat, wie die Akzeptanz einer bestimmten technischen Neuerung verläuft. In einer zeitlich unterschiedlich verlaufenden Anfangsphase führen Innovationen zu einem “peak of inflated expectations”. Dieses Übermaß an Erwartungen kann zum einen durch übertriebene Werbung enstehen oder zum anderen – das ist in der Regel der häufigere Fall – durch überhöhte Erwartungen auf der Nutzerseite, die auf Unwissenheit oder Unkenntnis der jeweiligen Technologie beruhen kann. Man erhofft sich etwas, was die Technologie nicht oder noch nicht leisten kann. In einem weiteren Schritt kommt es dann zum Praxistest einer neuen Technologie. Das führt häufig zu einem Realitätsschock.

Eine gewisse Enttäuschung und ein Auseinanderklaffen von Schein und Sein gehörten also dazu. Davor sollte die Rechtsbranche keine übertriebene Angst oder Sorge haben. Es gehört schlicht dazu. Es wird in den kommenden Jahren wichtig sein, möglichst schnell von einem objektiven oder subjektiv gefühlten “peak of inflated expectations” herunterzukommen und – auf dem Boden nackter und schnöder Realität – die Digitalisierung der Rechtsbranche erfolgreich zu gestalten – Hype hin oder her.

b. Ablehnung und technischer Fortschritt gehören zusammen 

Dass die Frage nach dem Hype teilweise auch mit Ressentiments vermischt wird, gehört ebenfalls dazu und sollte nicht beunruhigen. Das Harvard Business Review beschreibt “Five Stages of Disruption Denial“. Die drei ersten Stufen sind demnach:

Stage 1. Confusion. We don’t quite get it. We sign up for the new app. We give it a whirl. Not really getting it. By this time, gurus are reassuring us that this or that is the greatest thing ever. But that doesn’t help. We’re still not getting it. And so we turn to Stage 2.

Stage 2: Repudiation. It turns out there are lots of people who don’t get the new technology and now social life is a little like a competition to show that we’re not “falling for it.” At this point, there can more social capital in saying that we don’t like the tech than that we do.

Stage 3. Shaming. This is when we are so persuaded that we’re right and the new innovation is wrong that we are prepared to make fun of the credulous among us. I was on the receiving end after I gave a presentation on new media to a large advertising firm. When I finished, three planners took turns patting me on the head and telling me, “This Twitter thing. It’s just a fad. Give it a couple of months and it will go away.” We heard a lot of this sort of thing about Pinterest in the early days. Now it’s valued at $2.5 billion.

Die deutsche Rechtsbranche arbeitet sich derzeit größenteils durch die ersten drei Stufen, wenn es um die Digitalisierung der Rechtsbranche geht. Nach einer Studie des Soldan Instituts sind 46 % der Anwälte der Meinung, Legal Tech sei nur gut für die nichtanwaltliche Konkurrenz.

In den ersten drei Stufen sind ablehnende Haltungen, die ja auch ihr Gutes haben können, da sie zur Korrektur und zum besseren Erklären zwingen, üblich. Keine Neuerung ohne Ablehnung. Auch hier gilt das Gebot zur Gelassenheit und die Pflicht der “Early Movers” und “Innovatoren”, den “Rest” auf die Reise mitzunehmen.

Hieraus folgt: Wir sollten gelassen mit der Frage umgehen, ob es derzeit einen Hype um Legal Tech in Deutschland gibt und in/an Digitalisierung in konkreten Fällen, die Mehrwert bringen, arbeiten.

3. Legal Tech-Regulierung?

Man rieb sich 2017 auch verwundert die Augen, als der Justizsenator von Berlin in einem Interview mit dem Handelsblatt am 27.11.2017 forderte:

Eine Aufsichtsbehörde für digitale Rechtsberatung ist denkbar. Wir werden uns Gedanken darüber machen, wie man so etwas am sinnvollsten aufstellt. Denkbar wäre, dass sich das Bundesamt für Justiz zukünftig  um die Fragestellungen rund um Legal Tech kümmert.”

Erfreulich an dieser Entwicklung ist, dass sich nun (endlich) auch die Politik vermehrt mit dem Thema Legal Tech beschäftigt. Legal Tech wird vom Randthema zum Mainstreamthema (siehe oben). Es verwundert nicht, dass der Ruf nach Regulierung laut wird. Viele Juristen reagieren bei neuen Entwicklungen schon fast reflexartig mit dem Ruf nach Regulierung. Es erstaunt auch nicht, dass einige digitale Vorreiter vor einer überhasteten Regulierung warnten (Schlägt das Imperium zurück?).

Gegen eine gute Regulierung ist per se auch nichts einzuwenden, zumal es sich bei Rechtsberatung ja ganz unstreitig um eine sensible Angelegenheit handelt. Regulierung kann auch als ein Qualitätssiegel für “digitale Rechtsberatung” fungieren. Allerdings kommt der Ruf nach Regulierung durchaus früh, wenn man bedenkt, was für ein zartes Pflänzchen Legal Tech in Deutschland derzeit noch ist.

Problematisch wird es, wenn suggeriert wird, das digitale Rechtsberatung zu einem Austrocknen des Rechtsstaats und zu einer Kommerzialisierung des Rechts führen würde. Wenn kämpferisch das “alte System” gegenüber dem “neuen, digitalen System” positioniert wird, kommt es zu einer unnötigen Frontenbildung, die in der Sache nicht weiter hilft. Wichtig wird sein im Jahr 2018 den Dialog mit den politischen Stellen zu führen, um Vorurteile abzubauen und darzustellen, wie die Digitalisierung der Rechtsbranche konkret zu einer besseren Justizpflege für Rechtssuchende führen kann. Der Präsident des Deutschen Anwaltvereins (DAV), Ulrich Schellenberg, fasst es nämlich durchaus treffend zusammen: „Durch die Tätigkeit dieser [Legal Tech] Unternehmen wird der staatlichen Justiz nichts weggenommen.“

In der Tat, bei Legal Tech und Digitalisierung geht es nicht darum, das Juristen oder der staatlichen Rechtspflege etwas “weggenommen” wird, sondern um eine digitale  und technische Weiterentwicklung der Rechtspflege. Schlussendlich muss die Digitalisierung der Rechtsbranche sicherstellen, dass ein MEHR an Gerechtigkeit und Rechtsdurchsetzung für den digitalen Bürger des 21. Jahrhunderts entsteht.

4. Das anwaltliche BER = das beA?!

Eine besondere Bescherung bereitete der deutschen Anwaltschaft eines der Kernprojekte der Digitalisierung der Rechtsbranche: Das besondere elektronische Anwaltspostfach (kurz: beA). Pünktlich zum Weihnachtsfest wurde das beA wegen gravierender Sicherheitsklücken komplett vom Netz genommen. Derzeit ist unklar, wann das beA wieder zur Verfügung stehen wird. Der eigentlich geplante verbindliche Start zum 1.1.2018 steht in den Sternen. Experten gehen davon aus, dass die “Reparatur” wahrscheinlich drei bis sechs Monate in Anspruch nehmen wird (ausführlich zu den Hintergründen: BeA gestoppt: Ein Drama in drei Akten – Ausgang offen).

Die Vorgänge rund um das beA zeigen, dass – auch nach den größeren Fortschritten in 2017 – die Digitalisierung der Rechtsbranche in Deutschland noch in den Kinderschuhen steckt. Die Anzahl der Legal Tech-Unternehmen ist überschaubar. Experten, die an der Schnittstelle von Technik und Recht arbeiten können (zum Legal Engineer ausführlich), sind rar gesät. Die Rechtsbranche hat wenig Erfahrung mit der Umsetzung größerer IT-Projekte. Praktische Erfahrung mit digitalen Projekten und digitaler Transformation gibt es kaum.

Wichtig ist es daher, aus den Fehlern rundum das beA die richtigen Lehren zu ziehen, um derartige Fehler in der Zukunft zu vermeiden. Fehler zu machen ist wahrlich kein Beinbruch, aus Fehlern nicht zu lernen schon. Folgende Lehren lassen sich aus dem Debakel rund um das beA ziehen. Es wird wichtig sein, in 2018 eine “digitale Fehlerkultur” in der Rechtsbranche zu etablieren, die Fehler nicht zum Anlass nimmt, resignativ oder ablehnend gegenüber Digitalisierung zu werden. Denn bereits der Berliner Jusitzsenator Behrendt hatte richtig erkannt: “So wie das Internet geht auch Legal Tech nicht mehr weg.”

5. Unterschiedliche Geschwindigkeiten

In 2017 war ebenfalls zu beobachten, dass Kanzleien und Rechtsabteilungen unterschiedliche Geschwindigkeiten bei dem Thema Digitalisierung und Legal Tech gehen können und wollen. Teilweise wird auch in unterschiedliche Richtungen gedacht und gearbeitet – anstatt gemeinsam an Lösungen zu forschen.

Das Thema Digitalisierung und Legal Tech ist zweifelsohne sowohl bei Kanzleien und Rechtsabteilungen angekommen. Einige Kanzleien und Rechtsabteilungen haben gar spezielle Zuständigkeiten für Legal Tech geschaffen, sich eine Digitalisierungsstrategie überlegt, eine Task-Force gegründet, Events organisiert und die ersten Digitialisierungsprojekte angegangen. Hier ist allerdings noch viele Stückwerk und vieles in der Erprobungsphase.

Spannend zu beobachten war, dass die Digitalisierungsstrategien und -schwerpunkte sich in durchaus unterschiedliche Richtungen entwicklen. Grund hierfür sind teilweise unterschiedliche Interessen und strategische Schwerpunkte von Kanzlei und Rechtsabteilung. Während sich sowohl Kanzleien als auch Rechtsabteilungen im Jahr 2017 auf die Verbesserung interner Prozesse konzentriert haben, lag der Fokus von Rechtsabteilungen – auch getrieben von dem Willen Einsparungen bei der externen Beauftragung von Anwälten zu genieren – bei der Neustrukturierung der Nachfrage externer Rechtsdienstleister.

Hier gehen die Interessen notwendiger Weise auseinander. Kanzleien haben, vereinfacht ausgedrückt, kein gesteigertes Interesse daran, für Einsparungen bei Rechtsabteilungen zu sorgen. Rechtsabteilungen müssen aber dem allgemeinen Trend in deutschen Unternehmen folgen, dass “business units” Einsparungen erzielen müssen.

Im Jahr 2017 war häufig von Rechtsabteilungen zu hören, dass man sich von Kanzleien “nicht richtig verstanden” fühle. Während Rechtsabteilungen durchaus gewillt sind, neue Wege bei der Nachfrage von Rechtsdienstleistungen oder bei der Entwicklung neuer Produkte/Prozesse zu gehen, kommt von den Kanzleien, wenn überhaupt, nur sehr zurückhaltende Unterstützung.

In 2018 wird es wichtig sein, die neue Verhältnisbestimmung von Kanzlei und Rechtsabteilung dadurch zu unterstützen, dass neue Kommunikationsplattformen bereit gestellt werden, die den Austausch zwischen Kanzleien und Rechtsabteilungen auf neue Beine stellen. Eine neues digitales und von Innovation getriebenes Verhältnis kann nur gelingen, wenn die Kommunikation und der Austausch von Daten effizient und ohne Medienbrüche erfolgt. Hier ist noch ein längerer Weg zu gehen. Ein positives Zeichen in diese Richtung ist bspw. die Common Legal Platform, die derzeit von SAP unter der Regie von Kai Jacob angedacht und vorangetrieben wird.