Wirtschaftskanzleien und Legal Tech-Startups: Kooperation oder Disruption? – Interview mit Andreas Hecker und Björn Stressenreuter

Von Nico Kuhlmann

Vor einiger Zeit veröffentlichten Patrick Häde und ich einen Beitrag zu Legal Tech Acceleratoren auf Legal Tribune Online. Darin wurde bedauert, dass, obwohl durch die gezielte Förderung innovativer Geschäftsideen mit geringem Aufwand die digitale Transformation der Rechtsbranche beeinflusst und neue Einnahmequellen erschlossen werden können, deutsche Kanzleien bisher kaum mit Startups zusammenarbeiten.

Dieser Einschätzung, dass es kaum eine Zusammenarbeit zwischen Kanzleien und Startups gebe, widersprach Andreas Hecker, Partner der Kanzlei Hoffmann Liebs Fritsch & Partner in Düsseldorf, auf Twitter. Als Rechtsanwalt berät er Unternehmen, vom Startup bis zum Konzern, im Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht, und ist darüber hinaus Mentor bei Gründungswettbewerben. Aus dem Twitter-Universum kennt er auch Björn Stressenreuter, Gründer und Managing Partner von BSP Brokers Ventures und MRH Trowe Digital Solutions aus Hamburg, der selbst Legal- und Insur-Tech-Modelle (z.B. Portal zur D&O Versicherung) entwickelt. Ich habe bei beiden einmal nachgehakt.

Nico Kuhlmann: Lieber Andreas, lieber Björn, wie schätzt Ihr die aktuelle Situation beim Thema Legal Tech und Wirtschaftskanzleien in Deutschland ein? Kooperation oder Disruption?

Björn Stressenreuter: Legal Tech steht innerhalb des Startup-Sektors in Bezug auf Reifegrad noch sehr am Anfang, sowohl was Bedeutung für die Rechtsberatung als auch Disruptionspotential der überwiegenden Anzahl an Modellen angeht. Branchen wie Handel, Banken und selbst Versicherungen haben hier in Sachen Digitalisierung sicherlich einen zeitlichen Vorsprung. Dies hängt einerseits mit der Größe der Märkte, aber auch mit Branchenbesonderheiten zusammen. Nichtsdestotrotz ist der Rechtsmarkt ein aus Tech- und Investorensicht relevanter und interessanter Markt, in dem durch die Heterogenität sehr unterschiedliche Formen von Legal Tech-Geschäftsmodellen denkbar sind und Chancen auf überdurchschnittliche Renditen eröffnen.

Nico Kuhlmann: Die Rechtsmärkte sind größtenteils national. Gibt es diesbezüglich einen Unterschied zwischen Legal Tech in Deutschland und in anderen Ländern?

Andreas Hecker: Auf der einen Seite arbeiten Kanzleien unterschiedlichster Größe mit Online-Datenbanken, speziellen Kanzlei- und Datenmanagementsystemen, Programmen zum sicheren Datentransfer und zur sicheren Datenbearbeitung mit Mandanten oder mit Online-Bewerber-Tools. Auch sind zahlreiche Kanzleien als Rechtsberater für hunderte Startups in Deutschland tätig. Auf der anderen Seite haben sich projektbezogene Kooperationen mit jungen Legal Tech-Unternehmen zur Entwicklung des Rechtsberatungsmarktes noch nicht in Deutschland in dem Maße etabliert, wie man es sich wünschen würde. Hier ist – wie in so vielen Start-up und Digitalisierungsbereichen – der anglo-amerikanische Rechtsmarkt einen deutlichen Schritt voraus.

Nico Kuhlmann: Was ist Deiner Ansicht nach der Grund dafür? Warum sind die USA innovativer als Deutschland?

Andreas Hecker: Wie bei vielen anderen Digitalisierungs-Themen sind die USA Vorreiter. Dies liegt allerdings vermutlich nicht nur an dieser grundsätzlichen Tech-Frontrunner-Rolle. Auch die stärkere Management-Orientierung bei der Kanzleiführung hat hier sicherlich eine Bedeutung. Zudem hat die Größe anglo-amerikanischer Großkanzleien im Vergleich zur eher mittelständischen Ausprägung vieler deutscher Wirtschaftskanzleien zumindest bei der Finanzierung von Legal Tech-Projekten eine Relevanz. Darüber hinaus können genannte Kanzleien mittlerweile auf in Legal Tech ausgebildete Absolventen zurückgreifen, die als ausgebildete Juristen Rechtsdienstleistung aus der Perspektive eines Informationswissenschaftlers oder Ingenieures betrachten. Profile, die wir in der Form derzeit in Deutschland noch nicht systematisch ausbilden. Und schließlich muss man leider erheblichen Teilen der hiesigen Juristenwelt auch eine gewisse Skepsis beim Thema Technik bescheinigen, was man nicht zuletzt beim besonderen elektronischen Anwaltspostfach wieder feststellen kann.

Nico Kuhlmann: Was können wir Eurer Meinung nach in Deutschland für die Zukunft erwarten? Werden wir mehr Zusammenarbeit und mehr Bewegung sehen?

Björn Stressenreuter: Auch wenn wir uns beim Thema Legal Tech erst am Anfang befinden, zeichnet es sich bereits ab, dass sich der Rechtsmarkt von der Mandantenakquise über die Know-how-Entwicklung, die Mandatssteuerung und –bearbeitung, bis hin zum Verlust von Anwaltsdienstleistungen an neue Player verändern wird. Dabei ist weder der Umfang der Veränderung vollständig abzusehen, noch abschließend festzustellen, welche Anwälte und Kanzleien hiervon profitieren und welche verlieren werden. Letztlich können die Kanzleien durch entsprechende Kooperationen allerdings bereits jetzt Entwicklungen mitnehmen und sich hierdurch gegebenenfalls einen Vorsprung gegenüber Wettbewerbern erarbeiten. Hierbei ist von entscheidender Bedeutung, dass gerade im Bereich Legal Tech ein Wissenstransfer in beide Richtungen sinnvoll und notwendig ist, da zumindest in einer Vielzahl der Fälle die Entwickler und Geschäftsführer nicht über das rechtliche Wissen und den Kanzleieinblick verfügen und umgekehrt die Kanzleien nur schwer die Möglichkeiten von Legal Tech erfassen, beurteilen und entwickeln können.

Darüber hinaus ist der Markteintritt von Legal-affinen Digitalunternehmen mit entsprechenden Investitionsbudgets nicht auszuschließen beziehungsweise mit Blick auf die Margenverteilung bei Rechtsdienstleistungen als ’eher wahrscheinlich’ einzustufen. Ein ‘Move’ könnte hier in Verbindung mit der Übernahme einer Kanzlei oder mehrerer Teams einhergehen, um optimale Synergien aus juristischem Tech-know-how zu bündeln. Es ist also mit viel Bewegung zu rechnen.

Nico Kuhlmann: Wie und wo können Kanzleien am besten mit Legal Tech-Startups in Kontakt kommen? Wie genau habt Ihr Euch kennengelernt?

Andreas Hecker: Bei uns kam der Kontakt über twitter zustande. Generell sind Social-Media-Kanäle eine Plattform, um LegalTechs und Kanzleien zusammenzuführen, da zumindest die aktive Nutzung dieser Kanäle für Legal-Techs selbstverständlich und sowohl für Anwälte als auch Start-ups ohne Hürden einfach umsetzbar ist. Allerdings ist auch im Tech-Bereich die persönliche Komponente nicht zu unterschätzen.

Björn Stressenreuter: Hier bieten sich die allgemeinen Start-up- aber auch gerade die auf Legal-Tech bezogenen Netzwerktreffen an. Egal ob in Hamburg, Düsseldorf, Frankfurt, Berlin oder München, es gibt mittlerweile zahlreiche unterschiedliche Formate im Bundesgebiet, Kanzleien und Start-ups zusammenzuführen. Auch die Universitäten und ihre Alumni-Netzwerke werden künftig hier eine wesentliche Rolle spielen, um Tech-Know-How und Kanzleien zueinander zu bringen.

Nico Kuhlmann: Was können Kanzleien dabei alles von Startups lernen? Welche Eigenschaften sind wichtig, um die Digitalisierung zu meistern?

Andreas Hecker: Wie in anderen Industrien zuvor, werden insbesondere veränderungsbereite Marktteilnehmer zu den Gewinnern zählen, die in der Digitalisierung vor allem die Chancen sehen). Gerade dies wird für die eher starren Organisationsstrukturen von Wirtschaftskanzleien eine große, aber nicht unlösbare Herausforderung darstellen. Umso mehr Chancen hält dies für agile Wirtschaftskanzleien und neue Marktteilnehmer wie Legal Tech-Unternehmen bereit. Eine Kanzlei ist gut beraten, den Innovatoren in der Kanzlei ausreichend Gehör und Vertrauen zu schenken. Überspitzt formuliert: Wer letztlich vierzig „Steve Jobs“ benötigt, um seine Website zu relaunchen, wird schon sehr zeitnah zu langsam als Organisation sein und zurückfallen.

Björn Stressenreuter: Wichtig wird auch sein, zu verstehen, dass dieser tiefgreifende Wandel nicht neben dem Tagesgeschäft erfolgen kann und eine Vielzahl an neuen Expertisen benötigt. Hieraus folgt, dass die Bereitschaft zur Investition in neue Fähigkeiten, aber auch Kooperationen sowohl untereinander als auch mit Legal Tech-Unternehmen für Wirtschaftskanzleien jeder Größe erfolgsentscheidend sein werden und zum Teil einen neuen Blick auf das eigene Geschäftsmodell erfordert. In strukturiertester Form ist diese neue Offenheit bei internationalen Großkanzleien mit Lab-Ansätzen bereits beobachtbar. Jede Kanzlei muss jedoch für sich hier den richtigen, darstellbaren Ansatz finden.

Andreas Hecker: Last but not least erscheint es bei der voraussichtlichen Technologieentwicklung wichtig – speziell mit Blick auf die relativ hohen Einstiegshürden und den Mehrwert menschlichen Know-hows bei der Erbringung einer komplexeren Rechtsdienstleistung – nicht in falschen Aktionismus zu verfallen. Die Tage in denen die Tätigkeiten eines Rechtsanwalts vollständig vom Computer erledigt werden, sind sicherlich noch sehr fern und vielfach Panikmache. Dies heißt jedoch nicht ’weiter so’, sondern, wer sich jetzt nicht bewegt und lernt und positioniert, wird von den immer schnelleren Zyklen digitaler Veränderung in absehbarer Zeit vom Markt genommen.

Nico Kuhlmann: Vielen Dank für das Interview, lieber Andreas und Björn. Weiterhin viel Erfolg für Eure Projekte.